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Liebe - Geschichte: Die 60er bis 90er Jahre
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Geschichte:
Die 60er- 90er Jahre
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Inhalt
1933 wurde
der öffentliche Diskurs um die "freie Liebe" abrupt gestoppt.
Die Pest des Nationalsozialismus breitete sich epidemienhaft aus und machte
alle freiheitlichen Errungenschaften rigide zunichte. Somit werden auch die
letzten Reste der noch bestehenden Bohème und Kommune-Lebensformen ab
1933 vom nationalsozialistischen Regime liquidiert. Hand in Hand mit der katholischen
Kirche wird der Zusammenhang zwischen Ehe, Sexualität und Fortpflanzung
mittels der nationalsozialistischen Ideologie zusammengeschweißt. Der
Befehl in vielen Familienstammbüchern war klar und deutlich: " Zum
Geleit! Die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muß dem einen größeren
Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse, dienen. Adolf Hitler"
(zitiert nach: Beck/ Beck-Gernsheim 1994). Die Idee der "freien Liebe"
wurde somit zugunsten der Rassenlehre der Nationalsozialisten vertilgt und die
Ehe zur "Keimzelle des Staates", als Reproduktionsstätte der
"deutschen Rasse" vereidigt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Ehe und Familie vor allem in den 50er
Jahren eine erstaunliche Stabilität. So wird diese Zeit auch das "Goldene
Zeitalter der Familie" genannt. Denn nie zuvor war eine Form von Ehe und
Familie - nämlich der Typus der modernen Kleinfamilie mit ihrem Leitbild
der bürgerlichen Ehe als einer legalen, lebenslangen, monogamen Ehe - so
dominant wie in der Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 60er Jahre. Dieser Zustand
war in dieser Zeit ungewöhnlich homogen (vgl. Rerrich 1988). Vor dem Hintergrund
der schweren sozialen Schicksale der Kriegsjahre versprach die Ehe und Familie
in dieser Form eine Brutstätte des Glücks und der Sicherheit zu sein.
So bastelt man fleißig an der Fassade des glücklichen Familienlebens,
was nicht allzu selten in Verkitschung ausartete (vgl. die Werbefilme aus den
50er Jahren!). Doch das Glück dieser schönen neuen Welt konnte so
nicht lange halten. Denn zu tief und zu gewaltig wirkte die braune Vergangenheit
noch nach und der Umgang mit dem Moloch an Verlogenheit, Verschwiegenheit, Verdrängung,
unausgedrückter Trauer und versteckter Schuldgefühle mußte erst
noch gefunden werden. Die Zeit der Protestbewegung in der 68er Generation fand
von daher ihren vehementen Ausdruck.
So wurde die ältere Generation der Kriegsjahre von der "Jugend" radikal zur Rede gestellt. Immer mehr der politisierten Jugend erkannte, was Karl Jaspers 1966 auf den Punkt brachte:
"Heute droht kein Hitler und kein Auschwitz und nichts Ähnliches. Aber die Deutschen scheinen durchweg noch nicht die Umkehr vollzogen zu haben aus der Denkungsart, die die Herrschaft Hitlers ermöglichte. Werden wir, wenn es uns als Produktions- und Konsumgesellschaft gut geht, so zufrieden mit dem Augenblick, so blind für die Tatsachen, so phantastisch, so verantwortungslos, so verlogen bleiben? Dann gehen wir einem Verhängnis entgegen, ganz anderer Art als dem Hitler, und dann werden wir uns so wenig verantwortlich dafür fühlen wie seinerzeit und heute noch die Mehrzahl der Deutschen der Realität des Hitlerstaates gegenüber. Um unseren sittlichpolitischen Zustand zu durchschauen, dazu bedarf es der Kenntnis der Geschichte im Tatsächlichen und im Verstehbaren. Heute scheint noch wie früher das Tollste möglich"( Jaspers 1972).
Das Schweigen über
die Vergangenheit wurde zunehmend aufgebrochen. Hinzu kam noch die amerikanische
Machtpolitik mit ihrem imperialistischen Auftreten, die auch eine zunehmende
Remilitarisierung der Gesellschaft zur Folge hatte, wodurch viele eine Gefährdung
der demokratischen Prinzipien sahen. Der Vietnam-Krieg sprach hierzu eine deutliche
Sprache. In diesem Zusammenhang entstand die Außerparlamentarische Opposition
(APO), die mit der Ostermarsch-Bewegung begonnen und sich in der "Kampagne
für Abrüstung" verfestigt hatte, worin radikale Gruppen der akademischen
Jugend die Führung übernahmen. Zu dem kommt noch, dass im Zuge
der amerikanischen Antikommunismus-Politik sich ein bedeutender Teil des Nazi-Millitarismus
in der neuen Gesellschaftsordnung ungeschoren etablieren und Karriere machen
konnte (Globke, Seebohm, Oberländer, Filbinger, Kiesinger..). Es lag also
vieles noch im Argen. So machte sich eine ganze Generation daran, den Schutt
der braunen Vergangenheit, welcher damals noch in den gesellschaftlichen Strukturen
latent vorhanden war, in Form einer wilden Razzia gründlich zu entrümpeln.
Und tatsächlich war ein "latenter Faschismus" in den unterschiedlichsten
Bereichen der Gesellschaft noch lebendig: Das Geschlechterverhältnis, die
Kindererziehung, die Ehe und Familie als Institution überhaupt und die
Strukturen in den Bildungseinrichtungen waren durch und durch von faschistischen,
autoritärrepressiven Mechanismen durchdrungen. Die Deutsche Gesellschaft
wurde somit auf die Probe gestellt, wie ernst sie es mit ihrer ach so häufig
gepriesenen Demokratie auch meint.
Geistig geführt und theoretisch untermauert wurde die Protestbewegung vor
allem durch die Theorien von Karl Marx, die zum Teil mit voller Hingabe und
bis zur formelhaften Auswendigkeit gelesen wurden. Dahingehend gab es etliche
Irrungen und Wirrungen und Entfremdungserscheinungen, die schließlich
häufig in Enttäuschung und Wut endeten, da die erwartete Revolution
im Großen nicht eintrat. Die Sturm und Drang-Phase dieser Zeit führte
somit zum Teil auch in eine Radikalisierung und Brutalisierung der Bewegung:
"Allmählich vollzog sich, was jeder aktionistischen Protestbewegung
droht: Die Protestierenden verinnerlichten unbewußt, wogegen sie kämpften.
Sie propagierten, durch Herausforderungen des staatlichen Machtapparates dessen
'latenten Faschismus' in 'manifesten Faschismus' umschlagen zu lassen und damit
für jedermann deutlich zu entlarven. Die 'Guerillia-Mentalität', die
Rudi Dutschke ausdrücklich forderte, verstärkte die Aggressivität
der Aktionen und bewog Jürgen Habermas, Dutschkes 'voluntaristische Ideologie'
als 'linken Faschismus' zu verurteilen" (Richter 1988). Ohnmächtige
Wut führte oft zu recht "billigen" und trotzigen Hau-Ruck-Aktionen,
die sich gegen leicht verfügbare Personen auf der "feindlichen Seite"
richteten und die über das blose Werfen von Eiern und Farbbeuteln oft nicht
hinausreichten: Auch Herbert Marcuse, neben Marx einer der wichtigsten geistigen
Führer und "Philosoph der Studentenbewegung", erkannte diese
Teile der Bewegung und sprach von einer "pubertären Revolte, die sich
gegen das falsche Objekt richtet". Denn: "Der Gegner wird längst
nicht mehr durch den Vater, den Chef oder den Professor repräsentiert;
die Politiker, Generäle und Manager sind keine Väter, und das Volk,
das sie beherrschen, besteht nicht aus revoltierenden Brüdern. Gesamtgesellschaftlich
gesehen hat pubertäre Rebellion nur einen kurzlebigen Effekt; sie erscheint
oft kindisch und clownesk" (Marcuse 1973).
Die Brutalisierung der Bewegung gipfelte schließlich in einer kleinen
Fraktion ("Rote Armee Fraktion"), die sich im Untergrund formierte
und von da aus mit terroristischen Aktionen die Gesellschaft verändern
wollte. Welch gewaltige Wut und Enttäuschung verbarg sich wohl hinter der
ideologischen Fassade? So wurden öffentlich spektakuläre Mordanschläge
inszeniert und als symbolischer Protest markiert, ohne dass die Opfer jemals
eine persönliche Bedeutung gehabt hätten. So symphatisch die Motive
und analytischen Erkenntnisse einzelner Mitglieder dieser Gruppierung auch waren,
so verabscheuungswürdig ist jeweils die mörderische Tat. Bereits Lenin
bezeichnete 1920 den ultralinken Extremismus als eine Kinderkrankheit, die Ungeduld
mit ideologischen Argumenten und militanten Aktionen verbrämt. (vgl. Lenin
1967).
Andere Teile der Bewegung blockierten über endlos und ausschließlich
theoretisch geführten Auseinandersetzungen in Arbeitskreisen und Seminaren
ihr revolutionäres Potential. Doch die wohl konsequenteste Weiterführung
der Studentenbewegung fand dort statt, wo versucht wurde, an der Basis neue
Lebensformen einzuüben. So entstanden in aller Stille viele tausend kleine
Experimentier-Werkstätten: Wohngemeinschaften, Kommunen, Kinderläden,
Kneipen, Teestuben, Naturkostläden, Projekte wie freie Schulen, Jugendzentren,
Frauenhäuser, pädagogische und sozialtherapeutische Projekte, alternative
Beratungsstellen etc. Das Experimentieren mit alternativen Lebensformen beginnt
hier wieder nach vierzigjähriger Unterbrechung. Aus heutiger Sicht lassen
sich viele der damaligen Werkstätten für alternative Lebensformen
als Keimzellen aller späteren Selbsthilfeinitiativen und der neuen sozialen
Bewegung begreifen. Die neuen Lebensformen, als Gegenkultur zur herrschenden
Gesellschaft verstanden, sollten offen und offensive die Gesellschaft verändern.
In diesem Zusammenhang entstand auch endlich wieder das mutige Experimentieren
mit der "freien Liebe". Viele bemühten sich z.B. um eine größere
Offenheit in der Sexualität und kämpften mit dem schwer lebbaren Widerspruch
zwischen einer größeren sexuellen Freizügigkeit und dem Anspruch
auf Treue und Verläßlichkeit. Die führenden geistigen Köpfe
dieser Art von Bewegung waren vor allem Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und Dieter
Duhm. Sie und ihren Einfluß auf die Studentenbewegung wollen wir später
gesondert behandeln.
Vor der eigentlichen Phase der Studentenrebellion entwickelte sich von Skandinavien
herkommend bereits schon die sogenannte "Sex-Welle". 1964 verwirrte
Ingmar Bergmanns Film "Das Schweigen" aus Schweden die bundesrepublikanische
Öffentlichkeit. So wurde eine Gesellschaft allmählich und doch plötzlich
schockierend mit bildgenauer Deutlichkeit vor 'nackte Tatsachen' gestellt. Die
Reaktionen von damals sind heute kaum noch nachvollziehbar. Auch die Aufklärungsfilme
von Oswald Kolle ("Deine Frau, das ungekannte Wesen" 1969, "Dein
Mann, das ungekannte Wesen" 1970) zog ein riesiges Publikum an, das somit
gebannt in das unerforschte Land der Sexualtiät eindrang. Ein weiterer
Film, der 1969/70 als amerikanische Komödie die Öffentlichkeit begeisterte,
war "Bob & Caroline & Ted & Alice" von Paul Mazarsky.
Die humoristische Reaktion dieses Filmes auf die Freizügigkeit der 68er
Generation ist ein köstlicher Spaß und eine treffsichere Analyse
des damaligen Zeitgeistes: Make Love, Not War!
Zeitgleich zur filmischen "Sex-Welle" bewirkte auch die "Pille"
eine weitere Liberalisierung der Sexualmoral, vor allem des vorehelichen Geschlechtsverkehrs.
Im gleichen Zuge führten auch die unterschiedlichsten sexualwissenschaftlichen
Publikationen, die damals nach und nach einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
wurden, zu einer Veränderung der Einstellung zur Sexualität: Z.B:
Kinsey-Report von 1954, "Studenten-Sexualität" (1968) von Gieses
und Schmidt, "Die sexuelle Reaktion" von Masters und Johnson (1967)
etc. (vgl. Schenk 1987). Paralell dazu gab es noch eine zunehmende Kommerzialisierung
von Sexualität, was eine riesige Flut an Sexfilmen, Sex-Shops, Sex-Kinos,
Erotik-Centern und Illustrierten mit Bildern von Nackedeis etc. mit sich brachte.
dass diese Art von sexueller Freizügigkeit mit einer konsumorientierten
Überflußgesellschaft strukturell zusammenkommt, ist eindeutig auszumachen.
Diese Art von "sexueller Befreiung" schuf in Wirklichkeit hauptsächlich
eine Illusion der Freiheit. Sie erzeugte damit neue Probleme und Abhängigkeiten
im Versprechen, alte zu überwinden. Dies konnte einer umfassenden Befreiung
des Menschen allein nicht dienen. So weit, so schlecht.
Vor diesem Hintergrund entstehen aber auch Chancen, die neu entstandenen Freiheiten
in Bezug auf Liebe und Sexualität so zu nutzen, dass sie zu einer
ganzheitlichen Emanzipation souveränen Menschseins führt. Teile der
Studenten und Alternativbewegung machten sich in diese Richtung auf und setzten
Maßstäbe, hinter die wir nicht so ohne weiteres zurückfallen
können. Im folgenden werden wir am Beispiel von Wilhelm Reich, Herbert
Marcuse und Dieter Duhm die Idee der "freien Liebe" in Zusammenhang
mit der Studentenbewegung weiter verfolgen.
Wilhelm Reich, Psychoanalytiker, Erfinder, Naturforscher und Sexualagitator, steht für den Versuch, Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Freud und Marx zusammenzudenken, und insbesondere die Mechanismen sexueller Unterdrückung aufzuzeigen.
Wilhelm Reich ist neben Siegfried Bernfeld, O. Fenichel in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts auf dem Weg der Verknüpfung von Marx und Freud insofern am weitesten gegangen, als er aus beiden eine neue Wissenschaft, die Sexualökonomie , ableitet. So ist die "Wissenschaft der sozialen Sexualökonomie, die sich auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud aufbaut, eine im wesentlichen massenpsychologische und sexualsoziologische zugleich(...)". "Die Psychoanalyse enthüllt uns die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen im einzelnen. Die Soziale Sexualökonomie setzt fort: Aus welchem soziologischen Grund wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht?" S. Freuds eher pessimistische Antwort auf diese Frage, dass die Unterdrückung "um der Kultur willen" geschehe, bezweifelt Reich: "...man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte. Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern... Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung. Man untersucht die Geschichte der Sexualunterdrückung und die Herkunft der Sexualverdrängung und findet, dass sie nicht am Beginne der Kulturentwicklung einsetzt, also nicht die Voraussetzung der Kulturbildung ist, sondern erst relativ spät sich mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln und dem Beginne der Klassenteilung herauszubilden beginnt" (Reich 1979).
Diese Auseinandersetzung
um "Sexualität und Gesellschaft" aus den 20er und 30er Jahren
dieses Jahrhunderts nahm die Studentenbewegung entlang den Schriften W. Reichs
begierig wieder auf: so etwa Reichs Arbeiten "Die Massenpsychologie des
Faschismus" (1933), "Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral"
(1936) und "Die sexuelle Revolution" (1936).
Die Repression und Unterdrückung der sexuellen Wirklichkeit und die damit
einhergehende Neurotisierung der Menschen sah Reich vor allem auf 3 Phasen bezogen,
die sich in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ständig einander
bedingen und reproduzieren: 1. Phase im Elternhaus, wo zumeist eine neurotisierende
Atmosphäre herrschte: "Die Eltern unterdrücken die Sexualität
der Kleinkinder und der Jugendlichen unbewußt im Auftrage der autoritären,
mechanisierten Gesellschaft" (Reich 1972). Die 2. Phase der Pubertät,
die den zur vollen Geschlechtsreife herangewachsenen Jugendlichen aufgrund der
damaligen Zwangsmoral nicht erlaubte, bereits schon vor der Ehe sexuelle Erfahrungen
zu sammeln, zudem ja auch Verhütungsmittel und Onanie moralisch geächtet
wurden. Und schließlich bedeutete auch die 3. Phase einer "Zwangseinehe"
(Reich) im strengen moralischen Sinne eine weitere Quelle für Neurosen.
Stichhaltiges Untersuchungsmaterial, um diese Thesen zu belegen, hatte Reich
genug: Die "Psychoanalytische Poliklinik", deren Vizepräsident
er war, und die von ihm gegründete "Sozialistische Gesellschaft für
Sexualberatung und Sexualforschung" bezeugen eine erschreckende Unkenntnis
grundsätzlicher sexueller Gegebenheiten der Menschen im damaligen Wien
(das sicher typisch auch für andere Städte war), und es wird deutlich,
wie mächtig die damalige repressive Moral allgegenwärtig war (vgl.
Reich 1972; und die vielen Selbstzeugnisse von Jugendlichen der deutschen Jugendbewegung
in: Geuter 1994). Von daher war es für Reich eindeutig, dass die seelischen
Krankheiten letztlich "Ergebnisse der gesellschaftlichen Sexualunordnung"
(Reich 1972) sein müßten. Untermauert wurde diese Ansicht von Reich
auch durch das 1929 erschienene Werk Malinowskis "Das Geschlechtsleben
der Wilden", das auch in der Studentenbewegung wieder viel gelesen und
diskutiert wurde. Bronislaw Malinoswki, ein bedeutender englischer Kulturanthropologe,
untersuchte zwischen 1915 und 1917 ein Inselvolk in der Südsee, die Trobriander,
deren Kinder einen extrem sexualliberalen Umgang erfahren. Das heißt,
dass die kindlichen Sexualspiele geduldet und gefördert werden und
die Jugendlichen gemeinsam in Mehrfachbeziehungen zusammenleben können,
ohne dass ihre Eltern sich kontrollierend einmischen. Für Reich, wie
auch später für die Studentenbewegung, war hier die Vision ei-ner
freien und natürlichen Sexualität greifbar nahe. Nicht unerwähnt
soll bleiben, dass die Zusammenhänge und Bedingungen einer Kultur
der freien Sexualtität, wie sie bei den Trobriandern zu beobachten war,
oftmals verkürzt und zu einseitig interpretiert wurden. So z.B. meinte
Reich und mit ihm auch Teile der Studentenbewegung, dass mit der bloßen
Beseitigung aller sexuellen Unterdrückung auch die Ursachen für Mißtrauen,
Verbrechen, Neurosen, Selbstmorde, Perversionen (vgl. Reich 1972) einfach beseitigt
wären. Wenigstens blieben einige wichtige Zusammenhänge dahingehend
unerklärt. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Trobriander aggressive
und destruktive Seiten der Sexualität in verschiedenen Mythen und Sagen
integriert hatten, die zum Teil voller Grausamkeiten waren. Wie dem auch sei:
Prinzipiell zeigten die Trobriander, dass sich Regeln und Umgangsweisen
auch mit destruktiven Affekten finden lassen (z.B. über Mythen, Sagen,
Ritualen...) und dadurch andere Lebensbereiche wie z.B. die real gelebte Sexualität
von destruktiven Impulsen entlastet werden können. Somit kann dann auch
mehr positive Freiheit in der Sexualität gelebt werden. (vgl. B. Malinowski
1979; und Schmidt 1988).
Zum Thema "freie Liebe" bei W. Reich läßt sich folgendes
zusammenfassen: Reich konnte in seiner Zeit eindeutig die Zusammenhänge
zwischen sexueller Unterdrückung aufgrund einer sexualfeindlichen Zwangsmoral
und der Entstehung seelischer Erkrankungen aufzeigen. Allein schon im Namen
der Gesundheit forderte er die restlose Aufhebung aller sexueller Unterdrückung
und Verdrängung. Konsequent setzte er sich somit für eine Kultur ohne
sexuelle Verdrängung ein. Doch die Formen, die nach Auffassung Reichs einer
freien Gestaltung von Liebe und Sexualität entsprechen, sind letztlich
gar nicht so radikal, wie sie ihm oftmals fälschlicherweise nachgesagt
wurden (und werden). Reich spricht sich eindeutig gegen die "lebenslängliche
Zwangseinehe" aus, betonte aber ausdrücklich die wichtige Bedeutung
sexueller Dauerbeziehungen. So plädierte er aufgrund seiner sexualökonomischen
Überlegungen für eine "monogame Haltung", da das Bedürfnis
eine "lebhafte, beglückende Lust mit dem einen Partner immer wieder
zu erleben" wichtig und sinnvoll sei. Denn "der sexualökonomisch
wichtigste Nachteil der vorübergehenden Beziehung ist, dass nie eine
so vollständige sinnliche Angleichung der Partner, mithin auch keine so
vollkommene sinnlich Befriedigung möglich ist wie in der Dauerbeziehung"
(Reich 1936).
Monogam heißt für Reich in diesem Zusammenhang nicht, dass er
sexuelle Mehrfachbeziehungen ausschließt. Dies sei aufrichtigerweise so
oder so unvermeidlich und auch nicht sinnvoll. Er war sich jedoch bewußt,
dass Mehrfachbeziehungen persönliche Kompetenzen und soziale Bedingungen
erfordern, die in der Bevölkerung nur wenigen gegeben seien. (vgl. Sharaf
1994). Reich setzte sich vor allem für das Modell "Liebesbeziehung
auf Zeit" (modern gesprochen: serielle Monogamie bzw. Lebensabschnittpartnerschaft)
ein. Dies wohl auch aus persönlicher Erfahrung: er selbst hat in seinem
Leben das Modell der relativ offenen "seriellen Monogamie", also mehrerer
aufeinander folgender formaler und nicht-formaler Ehen, bevorzugt (vgl. Sharaf).
In modifizierter und eigenständiger Form hat Herbert Marcuse die älteren Ansätze der Freudomarxisten aufgegriffen. Seine Ideen daraus hat er vor allem 1955 in "Eros und Kultur" (später: "Triebstruktur und Gesellschaft") dargelegt, die hauptsächlich auf die europäische Studentenbewegung großen Einfluß hatten. Marcuse, der "Philosoph der Studentenbewegung", wie er genannt wird, verstand sich selbst als Philosoph in der Rolle des Intellektuellen, als "unverbesserlicher Philosoph", für den Philosophie und Politik untrennbar geworden sind. Marcuse formuliert in "Triebstruktur und Gesellschaft" die verheißungsvolle Utopie einer von repressiven Zwängen und Autoritäten befreiten Kultur, die "jenseits des Herrschaftsbereichs des Leistungsprinzips" aufersteht:
"Unter optimalen Bedingungen müßte in einer reifen Kultur der materielle und intellektuelle Wohlstand derart sein, dass er eine schmerzlose Bedürfnisbefriedigung zuließe, während die Herrschaft nicht mehr systematisch diese Befriedigung behinderte. In diesem Fall wäre das Maß an Triebenergie, das noch auf unvermeidliche mühevolle (aber dann völlig mechanisierte und rationalisierte) Arbeit verwandt werden müßte, so gering, dass ein weites Gebiet repressiver Zwänge und Modifikationen, die nicht mehr durch äußere Kraft aufrechterhalten würden, zusammenbrechen müßte. Infolgedessen würde sich die antagonistische Beziehung zwischen Lust- und Realitätsprinzip zugunsten des ersteren verschieben. Eros, die Lebenstriebe, würden in einem nie da gewesenen Maße freigesetzt werden" (Marcuse 1979).
So lockte er mit dieser grandiosen Vision einer befreiten Kultur die Studenten aus der Reserve in die Offensive und suggerierte, dass durch eine unverzügliche und gründliche Auflösung aller repressiven Zwänge und Autoritäten alsbald eine Kultur der Lust und der Freiheit entstehen könnte. Gerade an Marcuse konnte sich die Sturm- und Drang-Phase am Anfang der Studentenrebellion besonders leicht entzünden. Auf diese Weise hatte auch die Idee der "freien Liebe", im Zuge der freigesetzten Lebenstriebe, dem Eros, bei Marcuse ihr revolutionäres und ungezügeltes Potential gefunden.
Ein paar Jahre später (1972) mäßigte Marcuse sich in seinen Ansichten. Kritisch und erfreulicherweise undogmatisch formulierte er seine politische Strategie, die im Denken vieler StudentInnen deutlich Wirkung hinterließ und vor allem auch in der Alternativszene zu praktischen Konsequenzen führte:
"Die individuelle Befreiung ... muß im besonderen Protest die allgemeine Befreiung vorwegnehmen, und die Bilder und Werte einer künftigen freien Gesellschaft müssen in den persönlichen Beziehungen innerhalb der unfreien Gesellschaft bereits auftreten. Die sexuelle Revolution zum Beispiel ist nur dann eine Revolution, wenn sexuelle Befreiung mit politischer Moral verknüpft ist" (Marcuse 1973). So dann also: "Kein radikaler gesellschaftlicher Wandel ohne radikalen Wandel der Individuen, die seine Träger sind." Zugleich aber: "Keine Befreiung des Individuums ohne die der Gesellschaft. Das ist die Dialektik der Befreiung".
Mit
dieser genialen Formulierung pointiert Duhm ein Denken, das die innere Arbeit
nicht mehr aus dem politischen Denken ausklammern wollte und das die "Neue
Linke" damals auseinander entzweite und gegenseitig aufbrachte. Die Bewußtmachung
innerer Unfreiheit und die befreiende Arbeit daran, konnte Kräfte freisetzen
und Richtungsschilder vermitteln für gesellschaftsverändernde Maßnahmen.
Die bestechende Wahrheit und Notwendigkeit dieser Einsicht ist auch heute noch
in ihrer Gültigkeit faszinierend.
Dieter Duhm, promovierter Soziologe, Psychotherapeut und Kunsthistoriker, ist
Anfang der Siebzieger Jahre durch sein aufsehenerregendes Buch "Angst im
Kapitalismus" (1972) bekannt geworden, das ein Ergebnis seiner Praxis in
Mannheim sich politisch verstehender Selbsterfahrungsgruppen darstellte. Dieses
Buch wurde zum Bestseller und erlebte mehrere Auflagen. Interessant in diesem
Zusammenhang ist die Entwicklung der "Neuen Linken" von damals, die
sich in zwei Lager aufspaltete. Einerseits gab es eine zunehmende Dogmatisierung
der studentischen Linken, die sich durch fruchtloses, metatheoretisches und
sich selbst entfremdetes Debattieren in gelangweilte Lähmung versetzte.
Der heutige Hochschullehrer und damalige Student Rolf Schwendter erinnert sich:
"Ungern erinnere ich mich an das gegenseitige mißtrauische Beäugen alter Bekannter, wer wohl bei welcher Fraktion gelandet sei (was im Klartext hieß: mit wem es für wen noch Sinn hatte zu reden), an endlose Gremien-, Vollversammlungs- oder Seminardiskussionen über Scheinprobleme, an das morgendliche Lesen der Wandzeitungen, jenes gnädige Medium, das im voraus ankündigte, zu welchem Gegenstand man/frau sich 'zu verhalten' hatte" (Schwendter 1978).
Und auch Dieter Duhm erinnert
sich:
"Dann kam die Zeit der untergehenden Studentenbewegung und der linken Fraktionskämpfe.
Die KPD/ML trug Stalin-Plakate. Ich erlebte in Mannheim den Tod eines angeblichen
Spitzels. Ich erlebte die Tyrannei der politischen Doktrin gegen jede 'Sentimentalität'.
Ich erlebte die Inhumanität einer politischen Praxis, die die inneren Strukturen
des Systems, das sie bekämpfte, in sich nicht überwunden hatte. Ich
begriff die elementarste Grundtatsache des politischen Lebens: die ideologischen
Bekenntnisse sind austauschbar, solange die inneren Strukturen dieselben sind.
Strukturen der Verdrängung, Strukturen der Gewalt - der latenten oder der
manifesten Gewalt, das ist egal" (Duhm 1992).
Vor diesem Hintergrund kam
es andererseits zu einer folgenreichen Rückbesinnung auf je eigene Bedürfnisse
(ausgelöst auch durch die Frauen-, Lesben- und Schwulen-, Kommunebewegung),
zu der Duhm mit seinen Büchern und Gedanken für viele die Offenbarung
überhaupt war, was ihm nicht nur fünfstellige Auflagen beschehrte,
sondern auch zum geistigen Führer einer Art neuen "Emanzipationsbewegung"
werden ließ. Aufgrund seiner visionären Kraft und der Fähigkeit,
die Bedürfnisse und Wünsche seiner LeserInnen aufzugreifen und brillant
auszuformulieren, wurde er zum Vorbild einer ganzen Generation, die sich auf
der Suche nach neuen Lebensformen aufgemacht hat.
Das Thema "freie Liebe" durchzieht zunehmend deutlicher die Gedankenwelt
seiner Bücher, ausgehend von "Angst im Kapitalismus" (1972) über
"Der Mensch ist anders" (1974) und "Aufbruch zur neuen Kultur"
(1982) bis hin zum "Der unerlöste Eros" (1991), um hier einmal
die wichtigsten Bücher von ihm zu nennen. So ist Dieter Duhm seit der 68er
Bewegung seiner Erkenntnis treu geblieben, dass das zentrale politische
Thema Liebe und Sexualität heißt, sprich: Was das heutige Leben auf
der Erde so gefährlich macht, ist das gigantische Auseinanderklaffen zwischen
technologischem Vermögen und zwischenmenschlichem Unvermögen: "High-Tech
im Krieg, Neandertal in der Liebe" und: "Es kann in der Welt keinen
Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist", wie das Duhm auf den Punkt
bringt.
Unter den vielen kleinen und wenig bekannten Kommuneexperimenten, waren die Kommune I+II einer der berühmtesten Experimente, die gerade auch wegen dem Thema "freie Sexualität" für Aufsehen sorgten: Im Banne der Schriften W. Reichs, die meistens durchweg viel zu einseitig und verkürzt zugunsten der "freien Sexualität" ausgelegt wurden, sowie vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kommerzialisierung sexueller Freizügigkeit, konzentrierte sich die Kommune I+II vor allem auf die Zerstörung kleinfamiliärer Strukturen: gemeinsam wohnen, arbeiten und gemeinsame "freie" Sexualität statt Zweierbeziehung. Dies war ein bewußtes Kontraprogramm, ein Kampfmittel gegen die alten Formen der Zweierbeziehung, Ehe und Kleinfamilie. So wurde die "freie" Sexualität als plumpe Antithese zur bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Normen programmatisch verordnet. Dies konnte konsequenterweise auf längere Sicht nicht gutgehen und die meisten männlichen Kommunarden (in der Überzahl waren Männer Mitglied) verhielten sich der neu entstandenen sexuellen Freizügigkeit gegenüber wie die sprichwörtlich losgerissenen Kettenhunde: ausgehungert und notgeil auf der zwanghaften Suche nach 'Freiwild'! So erzählt der spätere RAF-Terrorist Bommi (Michael) Baumann, der zeitweise in der Kommune I lebte und seine Mitkommunarden aus der studierten Mittelschicht gern verspottete, folgendes:
"...bei uns [er meint: im Arbeitermilieu] war das sowieso sehr einfach. Da haste mal mit der Braut gepennt, denn mal mit der, du warst sowieso immer hinter Bräuten her, und zu der Zeit sind dir soviel Bräute hinterhergerannt, dass du so ein Ding [er meint: einer Zweierbeziehung] nie druff hattest: Wenn du lange Haare hattest und bist irgendwo hingekommen, da haben unheimlich viel Bräute auf dir gestanden, gerade die ganzen Fabrikmiezen... Die Kisten[= "Beziehungskisten"] haben mich dabei nicht interessiert, das waren ja bürgerliche Probleme". Seinen studentischen Genossen unterstellte Baumann "Psychodramen" und "heavy (laufende) Liebesgeschichten": "Die Typen waren ja auch irgendwie noch verklemmt, mit Bräuten haben sie es ja immer nicht gebracht, weil sie immer gleich noch so einen Anspruch mit aufgebaut haben" (Baumann 1975).
So nett und aufrichtig die unbekümmerte Flegel- und Rüpelhaftigkeit von Baumann auch sein mag, so dummdreist ist das, was die Theoretiker der Kommune als Programm dazu formuliert haben. Denn wie verkrustet die Hirne mancher Kommunarden mit chauvinistischem Gehabe damals waren, zeigt ein weiteres Zitat aus der Zeitschrift "Pardon". Dabei geht es um die "Befreiung" der Frauen von den Zwängen einer bürgerlichen Sexualmoral, die sie wohl noch nicht als 'Freiwild' freigaben:
"Es ist wie bei der Pferdedressur. Erst muß einer das Tier einreiten, dann steht es allen zur Verfügung. Erst ist es Liebe oder so etwas ähnliches, nachher nur noch Lust. Der Trick ist schrecklich einfach: Man macht ein Mädchen verliebt, schläft mit ihr und markiert nach einer Weile den Enttäuschten oder Desinteressierten. Dann überläßt man sie der Aufmerksamkeit der anderen und das Ding ist gelaufen. So ist sie ein vollwertiges Mitglied" (Pardon 1968 zit. nach Reimut Reiche, 1968).
"Innere Emanzipation" war für diese Kommunarden wohl ein Fremdwort. Oder aber wurde die inhaltliche Bedeutung ins Absurde geführt, was der bekannte Ausspruch eines Kommunarden deutlich macht: "Was kümmert mich der Vietnam-Krieg, ich hab` Orgasmusprobleme!"
Von Liebe zu reden galt als verräterisch, da dies nur verkorkste Tendenzen aus alten Zeiten beweisen würde und diese ganz schnell restlos vertilgt werden mußten. So wollten sie die Strukturen einer heuchlerischen Gesellschaft umstürzen , hielten aber an der Grundlage dieser Gesellschaft fest: dem Abspalten des Fühlens. Der ideologische Überbau verstellte den Blick auf die dahinterliegende Wirklichkeit der Gefühle. Interessant hierzu ist, dass dies Bommi Baumann ("Wie alles anfing",1975) im Rückblick auf seine Zeit als Terrorist sehr deutlich erfaßte :
"dass du dich für den Terrorismus entscheidest, ist schon psychisch vorprogrammiert. Ich kann es heute bei mir sehen, das ist einfach Furcht vor der Liebe gewesen, bei mir selber, aus der du dich flüchtest in eine absolute Gewalt. Hätte ich die Dimension Liebe für mich vorher richtig abgecheckt, hätte ich es nicht gemacht" (Baumannn 1975).
Die Kommune I wurde mehr und mehr kritisiert. So z.B. Reimut Reiche, der deutlich macht, dass es der Kommune I nur gelungen sei, "sexuelle Beziehungen herzustellen, die durch noch größere Repression als durchschnittliche Zweierbeziehungen gekennzeichnet sind, und dass diese zudem von dem regelmäßigen Schicksal ereilt wurden, dass sich immer wieder zwei Kommunarden fanden und liebten und aus der Kommune auszogen
" Die Kommunarden verhielten sich wie "Pubertäts-Asketen". "Die Kommunarden sagten: Wir wollen uns nicht länger der repressiven Einehe und ihren zugelassenen Vorläufern und studentischen Surrogaten beugen, - und mußten sich stattdessen promiskuösen Forderungen beugen, für die sie psychisch nicht ausgebildet waren und unter denen sie darum ganz sicher leiden mußten" (Reiche, 1968).
Folglich sei der Versuch,
gegen die repressive bürgerliche Sexualmoral anzukämpfen, "terroristisch
nach innen" gewesen.
Die Kommune II schien gegenüber der Kommune I etwas nachdenklicher: "was
die K1 an Lebendigkeit gewann, verlor sie an Intellektualität, was die
K2 an Intellektualität gewann, verlor sie an Lebendigkeit" (Schwendter
1978). So versucht die K2 über bestimmte Methoden (z.B. genau strukturierte
Gruppengespräche) die internen Konflikte um das Thema "freie Sexualität"
zu regeln: "Erzählen der Lebensgeschichte - Aufgeben der utopischen
Ansprüche - kollektiver Lernprozeß, der Veränderungen bei den
Individuen auslöst - fortschreitende Sensibilität" (ebd.). Und
in Bezug auf eine Krisensituation, die darin bestand, dass über "freie
Sexualität" mehr theoretisch gesprochen wurde als sie einfach zu leben,
wurde festgestellt:
"Die Situation war bestimmt durch starre, eingefrorene Beziehungen, gegenseitiges Ausweichen und Stagnation auf allen Gebieten. Zu ihrer Überwindung hätte es wahrscheinlich helfen können, andere (nicht sprachlich - intellektuelle) Formen der Kommunikation zu entwickeln... Wir denken etwa an gemeinsam spielen, Musik hören und selber machen oder gemeinsam bewußtseinserweiternde Drogen einzunehmen. Das hätte uns helfen können, wieder ein spontaneres und freieres Verhältnis zueinander zu gewinnen" (K2, zit. nach: Schwendter 1978).
Auf diesem Weg, über
bestimmte künstlerische Methoden interne Gruppenkonflikte zu gestalten,
war auch die AA-Kommune.
Otto Mühl wurde durch den Wiener Aktionismus bekannt, mit dem zu Beginn der 60er Jahre Happenings durchgeführt wurden, mit denen "bürgerliche" Tabus, wie Scham- und Ekelgrenzen, durchbrochen werden sollten. Ab 1973 gründete Mühl mit seiner Wohngemeinschaft die AA-Kommune (AAO = Aktions-Analytische Organisation) auf dem Friedrichshof bei Wien. Auch hier ging es vor allem darum, den bürgerlichen "Kleinfamilienmenschen" in sich zu überwinden. Sie propagierte und praktizierte "freie" Sexualität, wie es eins von zwölf Geboten ausdrückt:
"Erstens: Du sollst die kosmische Lebensenergie in deiner Lebenspraxis verwirklichen. Zweitens: Du sollst kein Geld und kein Privateigentum haben. Drittens: Du sollst nicht ausbeuten und dich nicht ausbeuten lassen. Viertens: Du sollst deine Kinder nicht schädigen und beim Aufwachsen behindern. Fünftens: Du sollst keine Gewalt gebrauchen, du sollst nicht strafen. Sechstens: Du sollst deine Sexualität nicht auf einen Menschen beschränken, sondern sie in Lebensgemeinschaft mit anderen Menschen verwirklichen. Siebtens: Du sollst nicht heiraten. Achtens: Du sollst keine Zweierbeziehung haben. Neuntens: Du sollst nicht eifersüchtig sein. Zehntens: Du sollst deine Schädigungen bekämpfen. Elftens: Du sollst die kosmische Lebensenergie durch Selbstdarstellung sichtbar machen und dein Bewußtsein erweitern. Zwölftens: Du sollst in gemeinsamer Arbeit mit allen Menschen zusammen die Welt gestalten" (AAO o.J).
Die Umsetzung dieser hohen
und zum Teil sehr abstrusen Ziele waren auf dem Friedrichshof mit sehr vielen
Schwierigkeiten verbunden. Um die gruppeninternen Konflikte zu regeln, gab es
ein ganzes Arsenal kommunikationspsychologischer "Werkzeuge": Gesprächanalyse,
Aktionsanalyse (AA) und Selbstdarstellung (SD = ähnlich dem Psychodrama
+ Bioenergetik + Urschreimethode ...). Doch allzuoft wurden diese hochwirksamen
Methoden mißbraucht und als Mittel zum "Psychoterror" eingesetzt.
So ist die Geschichte der AAO eine Geschichte des stetigen Aufbruchs und stetigen
Scheiterns, wobei das Scheitern schließlich immer mehr zu Geltung kommen
mußte.
Wer aus der verachteten "Kleinfamiliengemeinschaft" heraus in die
AAO einsteigen wollte, "mußte" sich einem totalitären Regelsystem
unterwerfen. Er "mußte" sich in der Anfangsphase die Haare scheren
lassen (die 'AA-Glatze'), sein ganzes Privateigentum der Organisation als "Darlehen"
übertragen und die Zwölf Gebote gewissenhaft erfüllen. Auch hier
wird schon bereits die Tragik dieser unheilvollen Strategie deutlich: Sie wollten
die alten Regeln und Normen in Frage stellen und wurden statt dessen mit neuen
Regeln und Normen konfrontiert und unterworfen, die lediglich im Gegensatz zu
den alten standen. Mit dieser Verkehrung gesellschaftlicher Mißstände
ins gegenteilige Extrem scheiterte die AA-Kommune wie so viele andere Experimente
auch. Und über all dem regierte Otto Mühl als absolutistischer Fürst
die streng hierarchisch strukturierte Gruppengemeinschaft letztlich in den Ruin.
Die Diktatur der freien Sexualität: Der Wolf erscheint hier im Schafspelz
einer "freien Sexualität", die sich fortschrittlich human gibt
und deshalb viel gefährlicher ist. Andreas Schlothauer, ein ehemaliges
Mitglied und Betroffener, berichtet:
"Der Umgangston war ideologisch und brutal. So hieß es abfällig im Wiener Dialekt: 'Geh, du bewußtlosa Trott'll. Du bleada Hund. Du bist ja total kaputt! So a größenwahnsinniger, aggressiver Typ, die weast es nie schaffen! Stell erst mal deinen 'infantilen Haß' dar! Wer bist du und wer bin I!" (...) Es entstanden mehrere Ableger der AA-Kommune z.B. in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Holland und Skandinavien: "Stolz wurde das 'Internationale Gemeinschaftseigentum' und die 'Internationale freie Sexualität' verkündet, die Gründung eines 'Internationalen AA-Konzerns' geplant. Der 'Siegeszug der AAO' begann". Und "der Tag bestand nur noch aus Arbeit, 'Therapie' und Erfüllung der Pflicht zur freien Sexualität. Langjährige Freundschaften und Beziehungen in den Kommunen wurden zentralistisch willkürlich getrennt, um den 'Beziehungssumpf und -schleim' in den Gruppen auszutrocknen. Die Ordnung innerhalb der Kommunen wurden durch hierarchische Durchnummerierung - vom Ersten bis zum Letzten - erzwungen". "Zweierbeziehung und Liebe waren streng verboten: Ehen reine Steuerersparnis-Gemeinschaften; Otto Mühl hatte diktatorische Vollmachten in jedem Bereich". "Warum blieben trotzdem so viele? Mühl wußte es: (...) 'Der Mensch ist ein Tier, und das erste, was er will, ist soziale Anerkennung. Lebensglück ergibt sich aus der Anerkennung im sozialen Kollektiv.'" (Schlothauer 1991, 32ff.).
1992 wurde Otto Mühl
zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er angeblich Organisationsmitglieder,
darunter auch Kinder und Jugendliche, sexuell mißbraucht habe. Die Kommune
löste sich auf. Schlothauer schreibt verbittert hierzu: "Das Ende
der Kommune, das Ende unserer Ideale, das notwendige Ende eines totalitären
Systems".
Die Entstehung einer solchen Kommune ist ohne den damaligen gesellschaftlichen
Hintergrund der links-alternative Szene unverständlich. Die radikale Bereitschaft
und Offenheit vieler Szenenmitglieder, das eigene Leben vollständig 'umzukrempeln',
geht einher mit der als gescheitert empfundenen politischen Rebellion der 6oer
Jahre und der radikalen Kritik der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft.
Diese Totalnegation der Gesellschaft erzeugte mitunter große Unsicherheit
und damit auch die Neigung, Ideologien und Sinngauklern zu folgen. So war die
Bereitschaft enorm, die eigenen Bedürfnisse zugunsten einer Ideologie unterzuordnen.
Wer konnte damals schon wissen, dass aus der anarchistisch-antiautoritär
beeinflußten Kommune eine totalitär beherrschte Gruppe werden würde?
Ein ehemaliges Mitglied weiß dazu zu sagen: "Wir, die wir anfänglich
gegen die autoritäre Vatergesellschaft protestierten, endeten mit einem
faschistoiden Erziehungsideal". Und: "Wir glaubten, dass wir
eine revolutionäre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Gemeinschaftseigentum
und freier Sexualität seien, tatsächlich war es ein Experiment mit
dem Prinzip 'Gehorsam'" (Schlothauer 1992).
Dieter Duhm, der als "Kommune-Forscher" bei seinen "Wanderjahren"
durch verschiedene Gemeinschaftsprojekte in den 70er Jahren auch die AA-Kommune
kennen- und schätzengelernt hat, kritisiert Otto Mühl und die AA-Kommune
im nachhinein vehement, aber auch fair und aufrichtig. Duhm sieht im Rückblick
auf das Scheitern der AA-Kommune vor allem 3 Gründe:
"1. Die absolutistische Führungsstruktur. (...) 2. Die psychologische Struktur des geschlossenen Kollektivs. (...) Die Geschlossenheit der Gruppe wurde durch die fatalen Sexualgesetze zementiert. Jeder sexuelle Kontakt zwischen Gruppenmitgliedern und Nichtmitgliedern war strengstens verboten. Als Friedrichshofvertreter durfte man eine externe Frau, die einem gefiel, nicht einmal auf den Mund küssen. (...) Es war eine blockierende Sexualordnung entstanden, die mit dem Gedanken der freien Sexualität wirklich nicht mehr vereinbar war. (...) 3. Die Verdrängung des Liebesthemas. (...) Die alte Form der Zweierliebe war die These, die neue Form der freien Sexualität die Antithese. Der Gegensatz beider war noch nicht in einer neuen Synthese aufgehoben. Freie Liebe kann auf Dauer nicht dadurch entstehen, dass man sie den alten Formen und Sehnsüchten einfach überstülpt. Dies aber war auf dem Friedrichshof weitgehend der Fall. Das Liebesthema im Sinne der Partnerschaft war tabu und kein Gegenstand der Auseinandersetzung. (...) In Wirklichkeit war das Projekt nicht daran gescheitert, dass es mit seiner freien Sexualität und seinem Gemeinschaftsgedanken einem unrealistischen Traum gefolgt war, sondern daran, dass es für die Verwirklichung dieses Traums die falschen Formen und Methoden gewählt hatte" (Duhm 1993).
Das, was in der Kommune
I + II sowie in der AAO exemplarisch gelebt wurde, hatte auch in abgeschwächter
Form Ende der sechziger und Anfang der 70er Jahre in der Studentenbewegung teilweise
seine Geltung. So war der Ausspruch eines Kommune I Mitglieds: "Wir wußten
nur, wogegen wir waren, nicht, was wir an dessen Stelle stetzen wollten"
typisch für eine ganze Generation, die ewig überdrüssig eine
"Kampf dem... weg mit..."- Mentalität hegte. Auch der berühmte
Slogan: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishement"
zeugt von einer heillosen Selbstentfremdung gegenüber der Wirklichkeit
von Gefühlen, die einer Ideologie der "freien Sexualität"
aufgeopfert werden mußte. Denn Sehnsucht nach Treue, Dauer, Bindung und
Eifersuchtsgefühle galten einfach als romantische Gefühlsduselei,
die ihren Ursprung in den Zwängen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft
und einer verkorksten Sexualmoral habe. Pseudorationale Durchforschung des eigenen
Lebens auf kleinfamilien verursachte Schädigungen und die genaue Analyse
jeder 'falschen' Gefühlsregung, die sich daraus ergab, verjagte die Liebe
ins Jenseits. Vorwürfe an den Partner und an die Partnerin, er/sie kompensiere
unbewältigte Probleme in der Zweierbeziehung, lege ein unemanzipiertes
Verhalten an den Tag, habe einer verfehlten Besitzanspruch, unterdrücke
die "wahren" Bedürfnisse nach "freier Liebe", zeige
typisch kleinfamiliales Rollenverhalten und andere einseitig übertrieben
Theoreme aus Psychoanlyse und Soziologie, machten schon allein von daher eine
Liebesbeziehung gar nicht möglich. So wurde die "freie Liebe"
von vielen allein auf "freie" Sexualität herabgestimmt und sie
vergaßen darüber das Liebesthema. Das Kind der "freien Liebe"
wurde somit allzuoft mit dem ganzen Bade einer "zwangsbefreiten" Sexualität
ausgeschüttet und erfolgreich ad absurdum geführt.
Gerade auch im Zuge der zunehmenden Kommerzialisierung der Sexualität folgte
die Idee der "freien Liebe" bei einigen den gesellschaftlichen Werten,
indem sie das Marktgesetz der freien Konsummöglichkeiten auf die "Liebes"-
beziehungen ausdehnten. An die Stelle der überholten repressiven Moral
setzte sich hier jetzt offen die der kapitalistischen Warengesellschaft: die
Moral des Aufreißens, Auslutschens und Wegwerfens. So nimmt die "freie
Liebe" als Ideologie der modernen Konsumgesellschaft keinerlei Rücksicht
auf die Bedürfnisse der einzelnen, der/die immer austauschbar und beliebig
bleibt. Trotz alledem: Die Befreiung der Sexualität, die sexuelle Revolution
ist zweifelos ein notwendiger und emanzipatorischer Prozeß, der im Innern
eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hat. Und gerade auch vor dem Hintergrund
einer fast zweitausendjährigen Unterdrückung der sinnlichen Liebe
ist es verständlich, dass viele an der plötzlich gewonnen Freiheit
in ihrem Denken und Tun 'irre' gingen. So ging der Schuß der "freien
Liebe" erst einmal weit über das Ziel hinaus, abgefeuert von einer
Kanone, die mit dem Dynamit einer großen Offenbarung geladen war. So ist
es halt mit großen Entdeckungen und Idealen: sie müssen erst einmal
eine Zeit lang intensiv benutzt und überprüft werden, bevor sie ihr
richtiges Maß finden. Trotz allen Irrungen und Wirrungen können wir
als Nachgeborene unserer Generation vor uns sagen: Habt vielen Dank für
euren Mut auf dem Weg zur "freien Liebe". Wir haben das Glück,
aus euren Fehlern lernen zu können!
Die feministische
Bewegung, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre entstand, buchstabierte
die Auseinandersetzung um Sexualität und Liebe auf ihre je eigene Weise.
Ausgehend von Frauenzentren und in diesen stattfindenden Selbsterfahrungs- und
Selbstthematisierungsgruppen sowie von Frauenzeitschriften , entstand damals
vor allem in größeren Städten eine ganze feministische Infrastruktur
mit Frauenhäusern, Frauenverlagen, -buchläden, -kneipen/ -cafés,
-rockbands, -seminaren, -tagungen, -austellungen, -festen. Die Frauen thematisieren
sich, sprechen miteinander und solidarisch vereint entlarven sie so zunehmend
den Mythos von der "befreiten Sexualität", der darin besteht,
dass vor allem wieder Männer ausschließlich definierten, was
Sache ist. So wurde die "befreite" Sexualität zwischen Mann und
Frau, die "Lüge von der sexuellen Befreiung" (Schwarzer 1975,
179), als Spiegel männlich-weiblicher Macht-Ohnmacht Beziehungen entlarvt.
Auf der Suche nach einer autonomen Existenz der Frau ohne ständig im Banne
männlicher Normen und Verhaltensweisen zu stehen, die Erfahrungen sexueller
Unterdrückung (das Recht des Ehemannes auf Vergewaltigung - vgl. auch die
aktuelle Debatte darüber!) und die Suche nach eigenen sexuellen Verhaltensweisen,
ließen in der Frauenbewegung eine breite Strömung politischer Homosexualität
entstehen - "Bewegungslesben", wie diese Frauen damals genannt wurden.
Literarisch zum Ausdruck kommt diese Haltung z.B. Verena Stefans Buch "Häutungen"
(1975) vor. Aber auch Alice Schwarzers Buch "Der kleine Unterschied"
(1975), eine Kampfschrift gegen die schwanzfixierte Bumsmentalität der
Männer, die vor allem in der "Penetration", in genital-genitalen
Kontakten sich auszudrücken schien, führte häufig konsequenterweise
zum Rückzug in die politische Homosexualität. "Freie Liebe"
der Frauen war somit zunächst die vom Patriarchat befreite Lesbenliebe.
Die Frauenbewegung entlarvte somit notwendigerweise konsequent das sexualrevolutionäre
Befreiungsprogramm der Linken als ein Aspekt der Männerherrschaft. Dem
Kampf der Studentenbewegung gegen Zwangsmonogamie und Dauerehe folgte der Kampf
der Frauenbewegung gegen das männlich-einseitige Vorrecht der männlich
definierten Sexualität, gegen die repressive Unterdrückung der weiblichen
sexuellen und emotionellen Bedürfnisse im Patriarchat. Vor allem auch das
pseudo-progressive, durch und durch chauvinistische Sexualgehabe vieler linker
Männer (ganz zu Schweigen von der einseitigen Kommerzialisierung der Frau
als Konsumobjekt) verriet, dass an der "sexuellen Befreiung"
vieles faul war. "Was für die männlichen Genossen die 'zur vollen
Genitalität befreite' sexualrevolutionäre Moral war, stellte sich
aus feministischer Sicht als 'sozialistischer Bumszwang' dar" (Schenk 1987).
Gerade auch in Verena Stefans Buch "Häutungen" wird diese verquere
Situation weiblicher Fremdbestimmung gut deutlich: "Der eine küßte
leidenschaftlich und wild, so dass ich Zähne spürte, nichts als
Zähne - und ich küßte leidenschaftlich und wild. Der andere
küßte sanft und erwachsen. Der eine mochte die Beine geschlossen,
der andere offen und flach, der nächste offen und um seinen Rücken
- und ich hielt die Beine geschlossen oder offen und flach oder offen und um
seinen Rücken. Der eine wollte die ganze Nacht durchmachen, der anderen
konnte nur einmal - und ich machte die ganze Nacht durch oder konnte nur einmal..."
(Stefan 1975, zit. nach: Schenk 1987).
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch dieses Programm der Befreiung der Frau vom Patriarchat zu teilweise entwertenden Übertreibungen führte, was oftmals auch eine neue selbstauferlegte Fremdbestimmung bedeutete. Endlich dürfen sie sich auf das Streicheln beschränken, das frau Zärtlichkeit nennt, das auch tatsächlich zärtlich sein kann, oft aber nur die ängstliche und stereotype Erfüllung einer neuen Norm ist. Hierin entstand eine feministische Ideologiesierung und Fetischisierung der Zärtlichkeit, die mitunter sexualfeindliche Züge annahm. So kam es wohl häufig, aufgrund der Wahrnehmung einer chauvinistisch-brutalisierten Männersexualität, zur Unterdrückung sexueller Wünsche zugunsten einer bibbernden und zitternden Suche nach zärtlichem Geschmuse. Folglich gab es innerhalb der Frauenbewegung heftige Auseinandersetzungen um weibliche Selbstbestimmung und Sexualität (vgl. die Pornographie- und S/M-Debatte). So wurde z.B. von Frauen an dieser einseitigen Art von Feminismus kritisiert, sie führe mit ihrem oftmals lesbisch betonten "Schmuse- und Blümchensex" zu einer neuen Unschuldslegende der Frau, voll reiner, liebevoller Sexualität, ohne Macht und Boshaftigkeit, was oftmals auch als feministische Entsexualisierung der Frauen verstanden wurde, sozusagen eine mit "Lieblichkeit und Friedfertigkeit" kastrierte weibliche Sexualität (vgl. Wetzstein u.a. 1993; und Sichtermann 1984). So waren es dann auch gerade Frauen aus der feministisch-lesbischen Subkultur, die sich sehr entschieden dagegen gewehrt haben, dass weibliche Sexualität mit dem zärtlichen, sanften Kuschelsex gleichgesetzt wird. Auch neuerdings lebt diese Auseinandersetzung innerhalb der Frauenbewegung wieder auf. So z.B. schreibt Sina-Aline Geißler in ihrem mutigen und umstrittenen Buch "Die Lust an der Unterwerfung - Frauen bekennen sich zum Masochismus" (1990):
"Die weibliche Emanzipationsbewegung fordert Selbstbestimmung und das Recht auf die Erfüllung der weiblichen Bedürfnisse. Dieses Bestreben darf - auch und gerade - das Recht auf Masochismus nicht ausklammern. Die Kunst, die Veranlagung zum Masochismus in eine selbstbestimmte Frauenexistenz zu integrieren, bezeugt in Wahrheit eine geglückte und wirkliche, eine glaubwürdige Emanzipation. Es wird höchste Zeit, sie als solche anzuerkennen" (Geißler 1993).
Wie inzwischen
schon mehrmals deutlich werden konnte, dominierte bis in die 60er Jahre hinein
eine restriktive Sexual- und Ehemoral. Erst im Zuge der links-alternativen Bewegung
sowie dem kritischen Hinterfragen der bestehenden sozialen Institutionen Ende
der 60er Jahre geriet auch wieder (in Anknüpfung an die 20er Jahre dieses
Jahrhunderts) der sexuell exklusive, monogame Charakter der bürgerlichen
Ehe ins kritische Visier. Mit dem Ergebnis, dass alternative Modelle des
Zusammenlebens auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und propagiert,
als auch zum Teil konsequent praktiziert wurden. Nach der Sturm- und Drang-Phase
im Experimentieren mit der "freien Liebe" Ende der 60er und Anfang
der 70er Jahre, kam es eher zu einer gemäßigteren und nicht mehr
so radikalen Auseinandersetzung um dieses Thema. Dementsprechend fand das Buch
"Die offene Ehe" (1975) von Nena und George O`Neill ein großes
Echo. Die Anthropologen Nena und George O`Neill werten in diesem Buch die Erfahrungen
einer dreißigjährigen Ehe im Zusammenhang ihrer anthropologischen
und psychologischen Studien aus und entwickeln entsprechend ein Konzept für
einen neuen Typus der Monogamie, das als ein zeitgemäßes Ehemodell
verstanden wird.
Wenn dieses Konzept auch im Ganzen nicht einfach unvermittelt übernommen
und verwirklicht werden kann, so enthält es doch zahlreiche Anregungen
und Orientierungspunkte, die zum Teil sehr gescheit durchdacht sind. Jedoch
besteht auch tendenziell die Gefahr, dass manche Aspekte als leicht umsetzbare
Rezepte ( miß-)verstanden werden, da sie zum Teil zu konkretisiert sind,
was wiederum zu einer bestimmten 'richtigen' Verhaltenheit führen könnte.
Als nächstes soll ein kurzer inhaltlicher Abriß des Buches folgen:
Aufgrund der eigenen Erfahrungen einer dreißigjährigen Ehe und den
zahlreichen Forschungsstudien zu diesem Themenspektrum, greifen sie vor allem
zwei Leitmotive auf, die sie im Laufe des Buches konsequent weiterverfolgen:
"der Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht nach der Zusammengehörigkeit
mit dem Partner..." (O`Neill 1975). Es geht dabei also hauptsächlich
um die Einsicht, "dass das Konzept der offenen Partnerschaft vielen
Ehepaaren zu der Erkenntnis verhelfen kann, dass in der Ehe sowohl Zusammengehörigkeit
als auch Freiheit miteinander bestehen können und dass diese Freiheit
- mit der Entwicklungsmöglichkeit und dem Verantwortungsbewußtsein,
die zu ihr gehören - die Basis für engste Vertrautheit und Liebe sein
kann". Nach dem sie grundsätzlich das Für und Wider der Institution
Ehe zugunsten einer "offenen Ehe" abgewägt haben, wird im weiteren
versucht, die offene Ehe gegen die traditionelle Ehe abzugrenzen. Dabei geht
es hauptsächlich um die Idee, dass jeder Ehe, neben einem formaljuristischen
Vertrag, auch ein psychologischer Vertrag mit bestimmten unbewußten und/oder
bewußten Klauseln (Normen, Regeln...) zugrunde liegt. So versuchen sie
im weiteren in Abgrenzung zum traditionellen (psychologischen) Ehevertrag acht
Richtlinien für einen neuen Partnerschaftsvertrag der "offenen Ehe"
zu entwickeln: Die acht Richtlinien: 1. Im Jetzt leben und realistische Erwartungen
haben 2. Eigenleben 3. Offene und ehrlich Kommunikation (mit und ohne Worte
- Selbstenthüllung und Feedback - Produktiver Streit und Miteinander Träumen)
4. Flexible Rollenverteilung 5. Offene Gemeinschaft 6. Gleichberechtigung 7.
Eigene Identität 8. Vertrauen. Diese acht Richtlinien beinhalten ein ganzes
Arsenal kommunikationpsychologischer Erkenntnisse, wie sie die damals neu entstandene
Humanistische Psychologie zunehmend entwickelte.
Die acht Richtlinien werden - wie schon bereits angedeutet- etwas zu konkret
und schematisch dargestellt, so dass allzu schnell der Eindruck entsteht,
hier ginge es um eine bestimmte Verhaltenheit, die man/frau nur 'richtig' zur
Darstellung bringen muß, eben nach Schema F. Im Anschluß an die
acht Richtlinien wird noch ausführlich auf das Thema "Liebe und Sexualität
ohne Eifersucht" eingegangen, dass mitunter zu anthropologisch ("Der
Mensch ist nicht von Natur aus monogam") ausfällt. Andererseits bringt
es sehr moderne Einsichten hervor, die auch noch in der heutigen Auseinandersetzung
um dieses Thema zur Geltung kommen. Die Freiheit in der "offenen Ehe"
wird zugunsten der Hauptbeziehung, nach dem Befinden des Partners oder der Partnerin
gemäßigt. Von da aus könne man/frau nur von Fall zu Fall entscheiden,
ob eine Beziehung nach außen auch sexuelle Kontakte einschließen
könne.
"Die Entscheidung darüber liegt immer bei einem selbst und kann sich nur nach dem eigenen Wissen über Grad des Vertrauens, das zwischen einem selbst und dem Partner herrscht, nach der Entwicklung der Identität beider Partner und auch danach richten, ob die Kommunikation zwischen ihnen so offen ist, dass jede Eifersucht ausgeschaltet werden kann".
Am Beispiel eines Paares, dass schon mehrere Jahre in einer "offenen Ehe" lebte, werden "ganz bestimmte Bedingungen als Voraussetzung für die Herstellung offener Außenkontakte" benannt.
"Dazu gehört als
erstes die Festlegung von Prioritäten. Absolut vorrangig war natürlich
die gegenseitige Beziehung; der Maßstab dafür waren gegenseitige
Rüchsichtnahme und die Zeit, die sich jeder Partner für den anderen
nahm." "Die zweite Bedingung war, dass die Fremdperson, mit der
diese Zeit verbracht wurde, über die Beziehung des Ehepaares zueinander
orientiert war. Mit anderen Worten: Aufrichtigkeit und Offenheit, die innerhalb
der Ehe bestanden, wurden auf die Außenkontakte übertragen."
"Beim dritten wichtigen Punkt geht es darum, dass man auf das Wohl
der Außenkontaktperson bedacht ist und darauf achtet, dass die Beziehung
auch für sie ein Gewinn ist oder ihr zumindest nicht schadet." "Mit
dieser dritten Bedingung ist eine vierte verknüpft: dass das Ehepaar
sich nur Menschen aussucht, die gleichfalls ausgeglichen und unabhängig
sind". Die Außenbeziehungen sollten letztlich also "nur eine
Erweiterung der grundlegenden Beziehungen zwischen den Partnern und niemals
eine Flucht aus dieser primären Beziehung oder ein Ersatz dafür sein"
.
Das Schlußkapitel "Synergie: Die Partnerschaft wächst mit der
Persönlichkeit der Partner" wirkt dann doch etwas zu hoch gegriffen,
wenn es darum geht, über die "sich ausdehnende Spirale der offenen
Ehe" ins Reich der unbegrenzten Möglichkeiten zu kommen.
Ein weiteres Beispiel für
diese Art der Auseinandersetzung um die "offene Ehe" im Sinne einer
Alternative der herkömmlichen Ehe, sind die Bücher von Carl R. Rogers
(darunter vor allem "Partnerschule" (Becoming Partners); "Die
Kraft des Guten" 1978).
Carl Rogers (1902-1987) war Schüler von Otto Rank, einem Schüler Sigmund
Freuds. Roger ist der Begründer der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie,
eine bedeutende Richtung innerhalb der Humanistischen Psychologie. In seinem
Buch "Die Kraft des Guten - ein Appell zur Selbstverwirklichung" geht
er von einer "Revolution in Ehe und Partnerschaft" aus, die z.B. folgende
Merkmale hat: die Kommunikation bei Partnerschaften sei offener und echter geworden,
wobei beide einander besser zuhören würden. Auch hätten beide
Partner gelernt, den Wert der Eigenständigkeit zu erkennen. Zudem komme
die wachsende Unabhängigkeit der Frau innerhalb der Partnerschaft zur Geltung,
was auch heißt, dass Rollen und Rollenerwartungen weiter zurücktreten
und durch eine personenbezogene Orientierung ersetzt werden, so dass jeder
und jede sein Verhalten selbst wählen könne. Desweiteren würde
die Bedürfnisbefriedigung, die man vom anderen zu erwarten hat, realistischer
eingeschätzt etc. Und schließlich:
"Jeder der Partner kann sogenannte Satellitenbeziehungen eingehen, die großes Leid, aber auch Wachstum und Bereicherung mit sich bringen können. Unter einer Satellitenbeziehung versteht man eine enge sekundäre Beziehung außerhalb der Ehe, die auch sexuelle Kontakte mit einschließen kann, aber an und für sich ihren Wert in sich selbst trägt" (Roger 1985).
Im Kapitel 10 "Ohne Eifersucht?" zeigt er exemplarisch am Beispiel eines Ehepaars namens Fred und Trish, wie sich eine solche "offene Zweierbeziehung" mit all den Höhen und Tiefen gestaltet. Roger stand zu dem Ehepaar über mehrere Jahre hinweg brieflich in Kontakt, wobei er die Briefe in diesem Kapitel teilweise darstellt und kritisch kommentiert. Das Vorzeige-Ehepaar Fred und Trish lassen vor allem erkennen, wie sie mit schwierigen Gefühlen wie Eifersucht etc. umgeht und welche praktischen Konsequenzen dies hat. Fred: Trish bemerkte, "dass die Liebe in der Ehe nicht abnimmt, wenn man mehr Menschen als den eigenen Ehemann liebt. Vielmehr war es so, dass ihre außerehelichen Erfahrungen ihre Liebe und Intimität mir gegenüber noch vermehrt haben. Aufgrund dieser Erfahrung war es ihr später möglich, meine Beziehung zu anderen Frauen zu akzeptieren". Schön und gut. Aber was ist, wenn es einen von beiden trotzdem schlecht damit geht? Fred:
"Wir sind beide fest davon überzeugt, dass der Ehepartner Vorrang haben muß, wenn er sich in einem echten 'emotionalen Tief' befindet. In einem solchen Fall würden wir einander immer emotionale Unterstützung geben und damit jeden schwerwiegenden Konflikt beseitigen". O.K. Im weiteren Verlauf kommt dann noch eine Sexualwissenschaftlerin - Maureen Miller - zu Wort, die zu dem Ehepaar kritisch Stellung bezieht und hinzu noch aus ihrer eigenen Erfahrung mit der sexuell offenen Ehe spricht. Zum Thema 'Eifersucht' weiß sie folgendes zu sagen:
"Mein Mann und ich sind zu der Einsicht gekommen, dass wir die Eifersucht, die der andere empfindet, wichtig nehmen müsssen. Wir bedeuten einander genug, um uns von jedem Schmerz, den der andere empfindet, Einhalt gebieten zu lassen. Wir halten inne, um die Gefühle des anderen zur Kenntnis zu nehmen und ihm soviel Zuwendung und Trost zu geben, wie er braucht; dann entscheiden wir, ob wir die Handlungsweise fortsetzen wollen, die die Eifersucht auslöste. Wir suchen nicht zu erreichen, dass Gefühle der Eifersucht nicht an die Oberfläche dringen; andererseits fühlen wir uns nicht verpflichtet, vor ihnen zu kapitulieren, wenn dies der Fall ist. Wovon wir überzeugt sind ist, dass die Erfahrung des anderen als bedingungslos gültig anzusehen ist. Wir geben einander das Recht, unsere eigenen Gefühle zu empfinden. Wir beachten sie, aber wir sind nicht bereit, so zu reagieren, als sei dies immer unsere Schuld".
Carl Rogers kommt schließlich
zu folgendem Schluß:
"Es ist möglich, mehr als einen Menschen gleichzeitig zu lieben, einschließlich
sexueller Kontakte, ohne beim Partner beobachtbare eifersüchtige oder possessive
Reaktionen auszulösen".
So weit, so gut. Wenn auch
die Art und Weise, wie über dieses Thema gesprochen wird, etwas zu psychologisierend
und gestelzt klingt sowie ein wenig exhibitionistisch anmutet, so können
die vielen wichtigen Aspekte darunter wohl auch weitreichende Gedanken und Diskussionen
auslösen, die sich sicherlich lohnen werden.
Die "offene Ehe" als ein zeitgmäßes Modell der Ehe hat
in den 70er Jahren zunächst heftige Reaktionen ausgelöst. Vor allem
in bestimmten Kreisen (z.B. im liberal gesinnten Bil-dungsbürgertum) war
es dann wohl einfach schick, eine "offene Ehe" (vor-)zuleben oder
besser: so zu tun, als ob man/frau eine offene Ehe leben könnte. Denn das
rethorische Geplänkel über die "offene Ehe" war sicherlich
mehr verbreitet, als die tatsächlich konsequent gelebte Praxis! Wie dem
auch sei. Genaue Studien darüber gibt es nicht. Doch sicherlich wurden
damals die Werte der Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung
oftmals zu einseitig übertrieben, so dass viele Frauen und Männer
sich damit überforderten, indem sie sich zu einer Toleranz gezwungen haben,
zu der sie psychisch nicht in der Lage waren. Dies hat auch Jürg Willi
der bekannte Paarforscher und -therapeut, in seinem Buch "Die Zweierbeziehung"(1977)
deutlich gemacht:
"Die Idealnorm, der viele nachstreben, ist das Bild einer freien Beziehung emanzipierter Partner, die nur so weit und so lange Bestand hat, wie sie den Beteiligten die uneingeschränkte Selbstverwirklichung ermöglicht und durch unverpflichtete Liebe lebendig bleibt. Von dieser Idealnorm sind nun aber viele - vielleicht alle - überfordert. Manche versuchen ihr vermeintliches Ungenügen durch forcierte Selbstständigkeit, Emanzipation, Ungebundenheit und sexuelles Expertentum zu überspielen. Ängstlich verdrängt und schamvoll verdeckt werden die zarteren Empfindungen, derentwegen man vom Partner als kindlich, naiv und schwach verlacht zu werden befürchtet und durch die man sich dem Partner als besonders verletzbar offenbaren könnte. In Therapie von jüngeren Paaren gestehen sich die Partner oft erst nach längerdauernder Behandlung ihre Sehnsucht nach stabiler Geborgenheit, ihren Wunsch nach Schutz und Sicherheit beim Partner, ihr Bedürfnis nach tiefem Vertrauen in gegenseitiger Treue und ihre Befürchtung, vom Partner deswegen reaktionärer Besitzansprüche oder infantiler Abhängigkeit bezichtigt zu werden. Häufig besteht sogar eine starke Hemmung, dem Partner überhaupt zu sagen, dass man ihn mag, an ihm hängt und sehr leiden würde, wenn man ihn verlieren müßte.(...) So stehen Partner, die sich zuvor bezüglich Emanzipationsgebaren und außerehelichen Beziehungen überboten hatten, nach einem Stück Therapie einander schüchtern und linkisch gegenüber wie zwei Schüler in der ersten Verliebtheit" (Willi 1990).
In den 80er
Jahren erlebte die sexuelle Freizügigkeit im Experimentieren mit neuen
Lebensformen erst einmal einen konservativen Rückschlag. Vor dem Hintergrund
der zunehmenden Desillusionierung und dem Abflachen der "revolutionären
Bewegung" in den 70er Jahren entwickelte sich stetig eine breite konservative
Strömung nach oben. Die schwarze Flut der konservativen Wende durchdrang
sämtliche gesellschaftlische Bereiche (z.B. Politik- Medien- Erziehungs-
und Ausbildungsbereich...) Auch in Bezug auf Liebe und Sexualität fanden
konservative Werte wie Treue, Dauer, Stabiliät, Ehe, Familie etc. wieder
verstärkt an Geltung. So zum Beispiel signalisierte der Erfolg des 1979
neu auferlegten Buches von Erich Fromm "Die Kunst des Liebens" (1956)
hier eine eher konservative Rückbesinnung auf den Diskurs der Liebe, es
"markierte eine Wende in der Einstellung zu Liebe und Ehe, 'offene Ehe'
und Mehrfachbeziehungen, die Betonung der Sexualität um ihrer selbst willen
traten in den Hintergrund, statt dessen war so etwas wie eine Renaissance des
romantischen Liebesideals zu verzeichnen" (Schenk 1987, 205).
Die konservative Rückbesinnung auf alte Werte ('Neue Innerlichkeit') mäßigte
also das Experimentieren mit "freier Liebe", was auch zum Teil als
ein Rückschritt zum Fortschritt zu sehen ist. Denn hier standen ebenfalls
wirkliche Einsichten dahinter, die der Wirklichkeit der Menschen mit ihren Bedürfnissen
und Gefühlen wieder näher kam. Aus meiner Sicht beherrscht jedoch
auch heute noch eine eher konvervativ christlich-bürgerliche Wertigkeit
(Gewissensethik) den Diskurs um Liebe und Sexualität. Zudem gibt es wieder
verstärkt Srömungen, die in eine verkappte Körper- und Sexualfeindlichkeit
und spießige Prüderie zu münden scheinen. Die "Furcht vor
der Freiheit" (Fromm) führt immer wieder in den Sumpf aus Angst und
Verzicht sowie aus Verstellung und Askese. Die Keuschheit in der sinnlichen
Liebe scheint mir wieder mehr auf dem Vormarsch zu sein. Hierzu ein paar aktuelle
Bücher: "Liebe ohne Sex" (Brown, 1980), "Die Freuden der
Keuschheit" (Holl, 1990), "Lob der Prüderie. Die Erlösung
von der Sexualität" (Grawert-May, 1991). Vergleiche auch die Debatte
"Zurück zur Keuschheit? - Kein Sex vor der Ehe!" im Deutschen
Allgemeinen Sonntagsblatt vom 19. August 1994! In den USA scheint diese Bewegung
längst zum Kult geworden zu sein. Man/frau trägt dort T-Shirts mit
Bekennertext auf der Brust: "Ich bin Jungfrau - und stolz darauf."
Auch in Deutschland gewinnt dieser Trend immer mehr AnhängerInnen. "Mehr
als 5000 Deutsche im Alter von 14 bis 30 Jahren, zu gleichen Teilen Männer
wie Frauen, haben sich seit vergangenem Jahr sogar schriftlich verpflichtet,
auf Sex vor der Ehe zu verzichten.(...) Getragen wird die Aktion von einer überkonfessionellen
Bewegung. Organisator ist der hessische Zivieldienstleitende Michael Müller,
22, (...)"(Spiegel special 5/1995).
Vergleiche hierzu das Buch: "Jürgen Stark: NO SEX: Die neue Prüderie
in Deutschland. Moralapostel und Lustfeinde auf dem Vormarsch, Reinbek 1996".
Die neue Gangart
der Prüderie und Keuschheit wird zum Teil vor dem Hintergrund der zunehmenden
Aufdeckung sexueller Gewalt, besonders sexuell mißbrauchter Kinder, verständlich.
So wird die Familie zunehmend als "Keimzelle der Gewalt" entlarvt:
"Gewalt in der Familie ist die häufigste Form von Gewalt, die ein
Mensch im Leben erfährt" (vgl. 'Die Zeit' vom 7. April 1995, S. 17ff.).
Hiebe statt Liebe! Sexueller Mißbrauch statt vertrauensvoll gelebte Berührung
und Körperlichkeit! "Die Perspektive vielfältiger Formen sexueller
Gesundheit und Freuden hat sich verdüstert und wird inzwischen beherrscht
von ebenso vielfältigen Bildern sexuellen Desasters" (Simon zit.nach:
Bartholomäus 1991, 25). Es scheint hier vieles im Dunkeln zu liegen. Die
Aufdeckung sexueller Gewalt gegen Kinder in Familien zeigt, wie Macht und Abhängigkeit
und sexuell unerlöste Erwachsene funktionieren. Positive Seiten von Lust
verschwinden zunehmend hinter der Aufdeckung von Gefahren und Gewalt. So wichtig
und lebensnotwendig all diese Aufdeckungskampangnen sind, so sehr gibt es einen
Umkehrpunkt, an dem solche Debatten dazu führen, letztlich jede Berührung
unmöglich zu machen. Ein überall verbreiteter Verdacht macht sich
bemerkbar, jede/r ist potentieller Täter und potentielles Opfer. Die wirklichen
Täter, die man/frau mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln stoppen
sollte, werden dadurch verharmlost. Kinder und Erwachsene werden inquisitorisch
beobachtet auf mögliche Anzeichen hin. Früher gab es z.B. Aufklärungsstücke,
etwa das pfiffig-kecke "Darüber spricht man nicht" oder "Was
heißt hier Liebe?", heute gibt es Theaterstücke, an denen Kinder
erkennen können, ob sie mißbraucht werden. Und es gibt Präventionsprojekte
gegen sexuellen Mißbrauch in Kindergärten, bei denen Kinder vor allem
"Nein" sagen lernen sollen, um sich gegennüber einer sexuellen
Verführung zu behaupten. Besteht hier nicht die Gefahr, dass jede
spontan nur zärtliche Berührung an dieser Infragestellung erstirbt?
Führt dies letztlich nicht zum totalen Berührungsverbot als bester
Schutz vor Mißbrauch? Zumindest wird der körperliche Umgang mit Kindern
verkrampft und mit Angst besetzt sein. Das kann doch nicht die Lösung dieser
schrecklichen und verqueren Situation sein?
Das Reden von "freier Liebe" kann in diesem Zusammenhang nur verdächtig
sein. "Freie Liebe und Sexualität": Welche Konsequenzen hat das
für den Umgang mit Kindern? Bedeutet "freie Sexualität"
da nicht doch die beliebige Befriedigung der eigenen Bedürfnisse an beliebigen
und leicht verführ- und verfügbaren Objekten? Gewiß: Freiheit
kann immer auch als Freiheit zum Bösen mißbraucht werden. Freiheit
benötigt also eine Vernunftehik (Wertorientierung), die ihren Maßstab
in den Verstand legt und nur über Handlungen (nicht über Gefühle,
Seelenmotive...) urteilt. Eine Vernunftethik kann keine moralinsaure Gewis-sensethik
bedeuten, sondern muß eine Verstandesethik sein. Dies schon deshalb, weil
Menschen unterschiedlicher Herkunft sich nur über Verstandesfragen öffentlich
verständigen können, während Fragen der Moral, die auf unterschiedlichen
Glaubensvorstellungen (Gewissensmoral, Ideologien, Religion, Esoterik...) beruhen,
letztlich nicht verhandlungsfähig sind und gemeinsame Antworten zulassen.
Der Diskurs der "freien Sexualität" ist somit immer auch ein
werte-ethischer Diskurs. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um eine neues sexualmoralisches
Dogma. Eine Verstandes- bzw. Vernunftethik hat nichts mit einer Gewissensethik
zu tun, die immerzu auf Angst beruht und Angst als Machtprinzip benutzt. Hier
verdrängt dann die moralische Einstellung die verstehende Einstellung.
Verstandesethik hat etwas mit Verständigung zu tun. Dies bedeutet letztlich
eine Transformation der Ethik im modernen Sinne: Konkrete Verhaltensvorschriften
(Rechte und Pflichten) werden immer mehr durch abstraktere, universalistische
"Regeln" ersetzt, die weder positiv noch negativ etwas vorschreiben,
sondern Bedingungen und Grenzen für inhaltliche unbestimmte Handlungen
formulieren. So ist Sittlichkeit nichts einheitliches mehr, sondern besitzt
inhaltlich gesehen einen vielfaltigen Charckter und somit auch mehr Handlungsspielraum.
In diesem Sinne gilt für mich als ein oberstes Leitprinzip der "freie
Sexualität" folgende Frage: "Was ist die Wahrheit der Situation?
Stimmigkeit hat Vorrang!". Dieter Duhm macht dies auf seine Weise deutlich:
"Wo freie Sexualität ohne die geistige Orientierung gelebt wird, entsteht
Chaos. Freie Sexualität im Sinne des sexuellen Humanismus ist nur möglich
in einem Klima des menschlichen Vertrauens, und dies eben setzt eine geistige
Grundqualität von Wahrheit, von Erkenntniswillen und menschlicher Solidarität
voraus"(Duhm 1992, 29).
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