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Freie
Liebe - Teil 1 - Gegenwart
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Zur
Aktualität der Freien Liebe - Teil I
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Zur Aktualität der Freien Liebe - Teil II |
Die Inhalte dieser Webseite werden seit 2002 nicht mehr aktualisiert und sollen im Sinne einer historischen Dokumentensammlung dienen. |
"Freie Liebe" ist kein eindeutiger Begriff, sondern ein vieldeutiger, der im Laufe der Geschichte in seiner Bedeutungsvielfalt unterschiedlich betont wurde. Im folgenden Versuche ich diese Bedeutungsvielfalt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und allgemein zu umschreiben.
Die Liebe - die Himmelsmacht auf Erden - ist eine alles umfassende Verbindungskraft und Verbindungssehnsucht. Sie ist die Einheit hinter den Gegensätzen. So gibt es nur eine Liebe. Die Liebe zur Partnerin, zu einem Freund, zu Gott, zu den Kindern, zur Natur, zu einem Gedanken..., sie ist zutiefst eine Liebe, für die es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Jeder Kontakt, den wir eingehen, bedeutet etwas anderes. Keiner ist mit einem anderen letztlich identisch. Und jeder muss seinen ganz eigenen Ausdruck finden. Die Liebe zu einem Menschen muss nicht die Liebe zu einem anderen ausschließen. Ganz im Gegenteil: Die Liebe des einen kann zur Liebe des anderen führen. Denn jede Liebe ist mit jeder anderen Liebe verbunden. Ich stelle mir eine Quelle vor, aus der Wasser fließt. Schon nach einiger Entfernung entsteht aus dem kleinen Bach ein großer Fluss, der sich verzweigt, größer und weiter wird und das ganze Land befruchtet. So sehe ich die Liebe. dass wir lieben, hat Konsequenzen für die Welt!
Die
Sinnlichkeit, die sexuelle Lust kann eine der schönsten Ausdrucksformen
der Liebe sein. Die sexuelle Liebe ist die
"Verleiblichung" des Strebens nach Ganzheit und Verbindung. Sie ist
die Schöpferkraft auf Erden, Quelle potentiellen Glücks. Sex und Liebe
sind verschiedene Dinge. Nachhaltiges Glück geschieht dort, wo beides zusammenkommt.
Wo sexuelle Lust aus Liebe, wo Liebe aus sexueller Lust entsteht, da lacht der
Eros, da ist das Glück leibhaftig, da umarmen wir die ganze Welt!
Doch
wurde und wird die Liebe - vor allem die sexuelle Liebe - immer wieder
vergiftet, ausgetrocknet und in Unfreiheit gehalten. Wenn die Quelle der Liebe
z.B. durch Angst, Sinnlosigkeit,
Beziehungsunfähigkeit und Gewohnheit ausgetrocknet wird, dann verkümmert
das Wasser im Fluss der Liebe und kann das Land nicht mehr befruchten. Oder
es geschieht das Gegenteil: wenn der Wasserstrom der Liebe nicht mehr seinen
Schwingungen folgen kann, weil er eingezwängt wurde in ein Betonbett aus
Furcht, falscher Moral und überholten Regeln, dann kann er sich irgendwann
gewaltsam Bahn brechen und die Landschaft überschwemmen. Auch dies hat
Konsequenzen für die Welt! Freiheit tut not. Doch was heißt hier
Freiheit?
Freiheit und Liebe, Freie Liebe, Liebe in Freiheit. Der Freiheitsbegriff im Begriff "Freie Liebe" meint zweierlei:
Erstens: Freiheit bedeutet hier die Freiheit von inneren und äußeren Zwängen, welche die Freiheit in der Liebe und Sexualität einschränken. Also z.B. die Freiheit von inneren Zwängen und Blockaden wie Angstgefühle, Eifersuchtsgefühle, Hass- und Konkurrenzgefühle, Gefühle der moralischen Schuld usw. Zum anderen die Freiheit von äußeren Zwängen wie ökonomische, staatlich-rechtliche, kirchliche sowie andere autoritäre Fremdbestimmungsformen. Das Ziel einer Freien Liebe ist die Möglichkeit, das Selbstbestimmungsrecht in all seinen gewünschten Variationen leben zu können: das Recht zu lieben, wie, wen, wann und wo ich will, das Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, die GeschlechtspartnerInnen frei zu wählen, anders- und/oder gleichgeschlechtlich, das Recht auf eigene Lust und Befriedigung entgegen allen religiösen, staatlichen, moralischen und anderen Fremdbestimmungsformen. Und wenn ich alle diese Rechte habe, dann hat der/die andere sie auch. Die Freiheit der Liebe und Sexualität in diesem Sinne findet erst an den gleichen Rechten anderer Menschen ihre Grenzen.
Zweitens: Freiheit
kann nicht nur bedeuten frei von inneren und äußeren Zwängen
und Einschränkungen zu sein, weil eine solche Freiheit, die immer nur fragt:
"Frei wovon?", einen rein negativen Inhalt hat. So meint Freiheit
andererseits auch die positive Freiheit für etwas. Es geht um den qualitativen
"Gebrauch der Freiheit".
Früher
litten viele Menschen darunter, dass sie nicht durften (weil es verboten war),
was sie sich ersehnten; heute leiden viele eher darunter, dass sie nicht können
(weil ihnen die Fähigkeit fehlt), was sie sich wünschen. "Wir
wollen uns lieben, aber wir wissen nicht wie", heißt es da zum Beispiel.
Der Kampf um die Freiheit zu dürfen, was man will, verschiebt sich mehr
und mehr zum Kampf um die Freiheit auch zu können, was man will. Es sind
heutzutage weniger die äußeren Hindernisse, die uns Grenzen setzen,
sondern viele erleben sich auf dem Gebiet der Liebe orientierungs- und haltlos,
sozusagen in innerer Selbstbeschränkung gefangen.
Das Sich-befreien muß in ein Gestalten, ein Kreieren, ein Verwirklichen führen, wenn die Befreiung von etwas nicht in ein Fiasko enden soll. Von daher ist die Liebe und Sexualität ein Thema der Kulturschaffung. Voraussetzung für die Entstehung der Freien Liebe ist somit die Kulturarbeit in diesem Bereich. Kultivieren heißt pflegen, behüten, üben, lernen, entfalten, verfeinern, verschönern, erfinden und gestalten, angefangen von der Art über die Liebe und Sexualität zu denken und zu sprechen, bis hin zu der Frage nach den sozialen Organisationsformen. Somit ist das Thema der Freien Liebe letztlich auch ein Politikum. Es geht hierbei also nicht nur um die Liebe und Sexualität an sich, sondern auch um die Frage, unter welchen sozialen Bedingungen die Liebe und Sexualität sinnvoll und frei gestaltet werden kann. Freie Liebesverhältnisse setzen freie Lebensverhältnisse voraus. Der Kontext ist hier oftmals wichtiger als der Text. Die Frage nach der Freien Liebe ist also auch eine Frage nach neuen Formen des Zusammenlebens.
"Freie Liebe" in Form der "freien Sexualität" meint hier vor allem die Freiheit des leiblichen Ausdrucks bezüglich einer schier unerschöpflichen Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten. Von daher gibt es die Sexualität eigentlich gar nicht. Vielmehr müssten wir bezüglich der "Vielfalt sexuellen Erlebens" von Sexualitäten sprechen (vgl. Bartholomäus 1993). Die Lust am Leib, die leibliche Lust im sexuellen Verhalten kann also einer unerschöpflichen Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten entsprechen, wenn wir frei dafür sind, hier eine große Bandbreite an inneren und äußeren Handlungsmöglichkeiten zu sehen und diese auch sinnvoll nutzen können.
Ausgeübte Sexualität ist kultürlich und nicht natürlich, ist immer Kultur und niemals Natur, zu der sie von kirchlichen Vertretern bis hin zu den linken Revolutionären der "sexuellen Befreiung" oftmals allzugerne stilisiert wurde und wird. Unsere patriarchal-christliche Kultur akzeptiert Sexualität nur im Zusammenhang mit (lustloser) Zeugung und Fortpflanzung als "Notwendigkeit der Natur". In diesem Zuge kommt es zur verhängnisvollen Aufspaltung von Sexualität und Liebe (Liebe = oben = rein = gut = geistig und heilig und Sex = unten = unrein = schlecht = leibhaft und sündhaft), zur Abspaltung und Abwehr weiblicher Potentiale mit gleichzeitiger Überbewertung männlicher Macht und Kontrollfähigkeit.
Die Vorkämpfer einer sexuellen Revolution setzen die Sexualität auf
die Ebene zu den "natürlichen" Körperbedürfnissen wie
Essen und Ähnliches (nach dem Motto: Sex ist so "natürlich"
wie Essen und Trinken). Damit hängen sie aber meist in der Luft, weil von
daher noch nicht verstanden werden kann, wie mit Sex umzugehen ist. Die menschliche
Sexualität ist Kultur, und von den "natürlichen" Körperbedürfnissen
unterscheidet sie sich schon deshalb, weil sie zwischen Menschen stattfindet
sowie dem Kennenlernen anderer dient und somit eher den "kommunikativen
Künsten" zuzuschreiben ist. Interessant ist hier zu wissen, dass
"weniger als 1% der Geschlechtsakte (...) Fortpflanzungsakte (sind). Menschliche
Sexualität ist vom Zwang der Hormone weitestgehend befreit. Die Orgasmusfähigkeit
ist bei beiden Geschlechtern sehr ausgeprägt, bei der Frau auch während
der Schwangerschaft und nach dem Erlöschen der Fortpflanzungsfähigkeit.
Sexuelles Interesse und sexuelle Anziehung sind grundsätzlich immer gegeben,
unabhängig von der Möglichkeit zu zeugen. Ob dieses Interesse tatsächlich
aktiviert wird, hängt von ganz anderen Faktoren und Umständen ab als
von der biologisch gegebenen Befruchtbarkeit. (...) Fortpflanzung als scheinbar
einziger oder hauptsächlicher Zweck der Sexualität tritt also im Laufe
der Evolution zum Menschen hin immer mehr zurück, sozial-kommunikative
Aufgaben der Sexualität im Sinne neuer Funktionen gewinnen zusätzlich
an Bedeutung" (Loewit 1992, 28f.).
Die Sexualität kommt wie ein Auftrag aus der Bezogenheit zu unseren sexuellen
Mitmenschen als Idee, Gefühl, Trieb, Bedürfnis hervor: von daher will
sie gelernt und gestaltet sein. Sexualität als leibhaftiges Ereignis verstanden,
stellt sich in Bezug auf meine sexuellen Mitmenschen somit zur Entfaltung und
Ausgestaltung zur Verfügung. Sexualität bedeutet eine mitmenschlich
bezogene Kunst, die sich zwischen Traum, Phantasie und dem realen Leib gestalten
läßt. Als Menschen können wir unsere Sexualität lebenslang
als kommunikative Kunst, als Leibsprache einsetzen und sie geht somit weit über
die Fortpflanzungsfunktion hinaus. Eigentlich ist die Kommunikationsfunktion
unserer Sexualität das, was uns Menschen vom Tier unterscheidet.
Die Befreiung der Sexualität braucht ihre Form und Struktur, und diese
neue Form und Struktur bildet sich gerade erst vor dem Hintergrund einer fast
zweitausendjährigen Unterdrückung der sinnlichen Liebe. Jung ist also
die Erfahrung, dass es zunehmend weniger eindeutige Regeln (Gebote und
Verbote) und Formen (z.B innerhalb der monogamen Ehe und Kleinfamilie) des sexuellen
Spiels gibt. Wir müssen als relativ enttraditionalisierte und individualisierte
Menschen Sexualität erst wieder lernen. (Das mag biographisch als auch
gattungsgeschichtlich verstanden werden). Sexuelle Lust bedarf der Inszenierung
und der Übung. Und des Leibes, des realen Leibes.
Auch hier sollte "Freie Liebe" in Form der sexuellen Freiheit vor allem das Selbstbestimmungsrecht für alle Beteiligten geltend werden. Dabei geht es darum, sich und seine Interessen so einzubringen, dass ich mein Gegenüber nicht festschreibe und übergehe, sondern dass ich sein Anliegen genauso respektiert und verstanden haben will, wie mein eigenes. Ich sage also nicht: Ich weiß besser als du, was für dich gut und richtig ist, sondern: Ich bin nicht du und weiß dich nicht. Ich und Du, wir begegnen uns, wir versuchen gemeinsam eine Situation zu gestalten: was liegt mir und was liegt dir soviel daran, dass die Sache so und so gemacht wird? Ich kann von daher meine sexuelle Freiheit nicht beliebig ausleben! Sexuelle Freiheit verlangt hier also eine Ethik der Freiheit!
Die zentralen (menschenrechtlichen)Werte im freien Spiel der Sexualität
sind somit vor allem Freiwilligkeit, Gleichwertigkeit und Solidarität ,
die zusammen die Basis für persönliche Selbstbestimmung bilden. Aufgrund
dieser Wertebasis kann ein gestärktes Ich hervorgehen, das den Beteiligten
gestattet, um der Hingabe- und Orgasmusfähigkeit willen auf alle Kontrollen
und Hemmungen zu verzichten. Von daher sind wir sogar frei, unsere eigene Unfreiheit
zu wählen, wenn wir es wollen und weil es uns guttut.
Letzteres ist z.B. in der S/M-Szene (also unter Menschen mit sadomasochistischer
sexueller Orientierung) üblich. In der S/M-Szene gelten die Beteiligten
vom Anspruch her als wirklich gleichberechtigt, zumindest auf der sexuellen Beziehungsebene.
Das heißt: Auf der Basis von Freiwilligkeit, Gleichwertigkeit und Solidarität,
im Schutz bestimmter Spielregeln, werden sexuelle Beziehungen gelebt, die zeigen,
was ein gleichberechtigtes Beziehungsverhältnis bedeuten könnte: die
Zulassung und Respektierung des Anderen. Gerade in der speziellen Kultur der
S/M-Szene wurden Formen leiblicher Kommunikation gefunden, die in ihrer Radikalität
zwar einerseits schockieren mögen, andererseits aber in ihrer gelebten
Souveränität und Bewußtheit beachtlich sind. In der S/M-Szene
gilt die Regel: Tue, was immer du willst, wenn dein/e PartnerIn freiwillig daran
teilnimmt und wenn die Folgen deiner Handlungen reversibel sind. Solche S/M-Spiele
sind außerdem nur dann lustvoll, wenn keine reale soziale Abhängigkeit
besteht (Vergleiche dazu die hervorragende Studie der Universität Trier,
Abteilung Soziologie, durchgeführt und gefördert von der Deutschen
Forschungsgemeischaft - DFG (vgl. Wetzstein/Steinmetz/Reis/Eckert 1993)).
In den sadomasochistischen Zirkeln werden bewußt Emotionen bzw. Gefühlslagen
wie Wut und Angst, Schmerz und Ekel, Wille und Willenlosigkeit, Scham und Schamlosigkeit,
Stolz und Demut in der Kombination mit Erotik und Sexualität inszeniert.
Solche Gefühle geschehen real, werden 'materiell-leibhaftig' gefühlt,
ereignen sich spürbar und meßbar, sind also Sinn-Bilder nicht in
übertragener geistiger Weise, sondern bilden den Sinn durch reale Verkörperung
ab, durch Verleiblichung der spielerisch inszenierten Beziehungsinhalte.
Das ist eine hohe Kunst der leiblichen Kommunikation und steht nicht im Widerspruch
zu der hier skizzierten Freiheitsethik. Ganz im Gegenteil: Viele können von
der Art und Weise des Umgangs der S/M-PraktikerInnen in Bezug auf die Werte
Freiwilligkeit, Gleichwertigkeit und Solidarität im sexuellen Spiel einiges
lernen.
Unter Bewahrung dieser Werte, in Bezug auf die inhaltliche Stimmigkeit und des
gegenseitigen Einvernehmens innerhalb einer sexuellen Beziehung, kann die sexuelle
Lust derart vielgestaltig sein, so dass eigentlich nur noch der Mangel
an Kreativität und Phantasie dem unerschöpflichen Gestaltungsspielraum
hier Grenzen setzen kann. Die Sinnenvielfalt der Sexualität, die spielerische
Lust, das lustvolle Spielen - auch in ihren geilsten Formen - kann somit ein
sinnvolles und geglücktes Spiel werden, da die beteiligten Menschen auf
dieser Basis wohl am ehesten in ihren Bedürfnissen nach persönlicher
Anerkennung, nach hautwarmer Geborgenheit, nach sinnenreicher und orgastischer
Lust, nach kreativer Lebendigkeit und pulsierender Vitalität befriedigt
werden.
Von daher muß Sexualität auch nicht an Liebe, Freundschaft oder ähnliche
Legitimationsgründe verknüpft sein, da es hier mehrere Arten der Sexualität
geben kann, die sinn- und wertvoll sein können: die intensive warme mit
großer Nähe verbundene Intimität - oder eine kurze hitzige geile
Lusterfahrung des Moments - oder einfach nur technisches Können (z.B. Tantra-Massage),
das dazu dient, dass sich ein Leib wohl fühlt.
Heutzutage bedeutet "freie Liebe" hauptsächlich die Fähigkeit, mehr innere Freiheit in der Liebe zu wagen, was vor allem als ein sozialpsychologisches Problem gesehen wird. Hier wird zum Beispiel gefragt: "Gibt es ein Zusammenleben, in dem auch die sexuelle Zuwendung zweier Menschen in einem Dritten keine Verlustangst, keine Lähmung und keinen Haß mehr hervorruft?"
Aufgrund meiner Beobachtungen denke ich, dass viele heutzutage, vor allem Jugendliche, in Bezug auf die Freiheitsmöglichkeiten in der Liebe einerseits aus Angst vor wirklicher Nähe und aufgrund einer gewissen Orientierungslosigkeit zurückhaltend und distanziert reagieren. Andererseits nehme ich auch eine bestimmte Besinnung auf menschliche Werte und die Wiederentdeckung der Wichtigkeit seelischer Verbundenheit wahr. Entsprechend wird auch das Thema der Freien Liebe so gut wie gar nicht mehr ideologisch thematisiert, sondern vielmehr auf ihre realistischen Möglichkeiten hin befragt.
Das Thema der Freien Liebe wird derzeit vor allem um die Begriffe "offene Beziehung", Treue/Untreue, Eifersucht, Seitensprung, Fremdgehen, aushäusige Verliebtheit, erotische Freundschaften... diskutiert.
Im folgenden will ich eine
kleine Auswahl an Zitaten aus verschiedenen Büchern, die in den 90er Jahren
erschienen sind, präsentieren.
Jörn Pfennig, Jahrgang 1944, Jugend in Tübingen, lebt als freier Schriftsteller und Jazzmusiker in München. Er hat sich dem Thema "Liebe" vor allem in Gedichtsform gewidmet und bietet so die Möglichkeit der Selbsterfahrung. Hier eine Auswahl aus seinem Buch: "Keine Angst dich zu verlieren" (1993). Ein Buch "für alle, die wissen-glauben-hoffen-fürchten, dass Liebe ohne Angst erst Liebe ist"
"So
frei bist du
Du hast mir niemals Du hast mir niemals Du hast mir immer So frei bist du." |
Gerade
noch
Das Eingehen auf |
"One-night-stand'
Wenn dich und mich kein Vorbehalt plagt wenn sich keiner von uns beiden fragt: soll ich, muß ich, darf ich überhaupt? wenn uns keine Moral die Natürlichkeit raubt und keine Angst vor diesem und jenem vor Versagen oder vor schlechtem Benehmen wenn wir ganz einfach tun, was wir wollen und greifen spontan und gelöst in die vollen dann wird es ein fröhliches Liebesfest das uns gar nicht an morgen denken läßt weil die Zärtlichkeit keinen Unterschied macht zwischen einer und einer einzigen Nacht!". (31) |
Egoismus
1
Je mehr du von dir
hast Warum also sollte
ich |
Nicht
egal
Weil ich dich liebe |
Vorher/Nachher
Kein Mensch kann Kein Mensch kann Vorher ist Eifersucht |
"Glaub mir nicht, wenn ich dir sage, dass ich dir ganz gehören will. Ich will niemanden gehören"(Schaffer 1989, 113).
"Eine freiwillige Bindung ist kein Gebundensein".(117)
"Wenn ich über deine Freiheit wache, bleibe ich selbst frei" (121)..
Vor allem in seinem Buch
"Chancen der Offenheit" (1990) thematisiert Schaffer in Form eines
fiktiven Briefes, wie mit einer aushäusigen Verliebtheit verständnisvoll
umgegangen werden kann:
In diesem Brief geht es darum, dass eine Frau namens Annette ihrem Ehemann gesteht,
dass sie sich in jemand anderes verliebt hat:
"Mein Lieber,
ehe du eifersüchtig wirst und mir Vorwürfe machst, die ich dann vielleicht
nicht mehr entkräften kann, weil Du Mühe hast, mir zu glauben, oder
mich nicht mehr hören kannst, möchte ich Dir heute aufschreiben, was
in mir vorgeht.
Ich habe mich in unseren gemeinsamen Freund Paul verliebt, ich mag ihn, ich
freue mich, mit ihm zusammen zu sein. Ich weiß nicht genau, wie ich es
ausdrücken soll - aber auf die Worte kommt es nicht an. Ich war selbst
überrascht von meinem Gefühl und versuche es nun zu verstehen. Ich
spüre, dass dies in keiner Weise gegen Dich geht und uns auch nicht
trennen muß(...) Ich bin kein Teenager mehr. Ich vergesse über dem,
was in mir aufbricht, unsere Beziehung nicht. Sie ist der Hintergrund, auf dem
ich mich getraue, dieses zu erleben. Wir haben uns ja schon oft gesagt, dass
wir einander nicht gehören. Wir sind nicht des andern Besitz, sondern eigene
Menschen, auch wenn wir eingewilligt haben, in einer Ehe zu leben und uns treu
zu sein. Darum gehöre ich Dir auch in dieser Situation nicht. Deine Meinung
zu dem, was ich erlebe, ist mir nicht unwichtig. Ich werde darum gern mit Dir
sprechen, aber die Entscheidungen werde ich selbst treffen, und ich hoffe, dass
du das respektieren wirst. Ich gehöre mir, und alles, was ich in mir und
für mich entwickele, macht letztlich auch Dich reicher (...)
(...) in dem Begriff Treue sehe ich heute etwas anderes, etwas Tieferes, Totaleres
als damals. Damals habe ich und wahrscheinlich Du auch und die Menschen, die
bei unserer Hochzeit zugegen waren, Treue viel enger verstanden: niemand anders
zu lieben, besonders nicht sexuell, und sich mit niemand so tief einzulassen
wie mit Dir. Heute verstehe ich Treue als ein ganz tiefes Für-Dich-Sein(...)
Das kann heißen, Deine Wünsche nicht zu erfüllen, weil ich Dich
damit von mir abhängig mache(...) Ich möchte den Rest meines Lebens
mit Dir verbringen, weil ich es will, nicht weil ich es muß oder weil
ich vielleicht ohne Dich nicht leben könnte. Ich will mit ganzer Überzeugung
sagen: Ich kann ohne Dich leben, aber ich will es nicht, wenn es nicht nötig
ist (...)
Traust Du mir? Ich liebe Dich nicht weniger als früher. Annette (128ff)".
"Treue
Jeder zweite Mann, statistisch
nachgewiesen,
ist bezüglich seiner Treue in den Miesen.
Ach, was ist es bloß, das immer dazu führt,
dass man die Lust auf andre Leiber in sich spürt?
In der Ehe, dachte man,
wär das geregelt.
Ist es nicht - und drum wird fremdgesegelt.
Und die armen, armen, armen, armen Frauen
wolln genauso, bloß dass sie sich nicht so trauen!
Überall ist es die
gleiche Misere,
dem Charakter kommt die Geilheit in die Quere.
Wer behauptet, dass er trotzdem nicht betrügt,
auch nicht im Geist,
von dem behaupt ich schlicht und einfach,
dass er lügt - und zwar sehr dreist!
Ich war sehr treu, da war
es mir so fad.
Ich wurde immer müder und ganz matt.
Ich dachte wirklich, ich sei chronisch krank,
aber das war es nicht -
dem lieben Gott sei Dank!
Es war gottlob was ganz
was andres, weil
ich war nur ein kleines bißchen geil.
Doch der Mann verlangte unbedingte Treue,
täglich, stündlich, unerbittlich aufs neue!
Manchmal braucht es nur
ein kleines bißchen Mut -
als ich untreu war, da gings mir wieder gut.
Ich mußte mich jetzt nicht mehr so viel schonen,
es verschwanden auch die doofen Depressionen.
Ein Mensch, der lebenslänglich
anständig und treu ist,
erfährt ja nie mehr etwas, was für ihn ganz neu ist.
Er fühlt sich sicher und versinkt im eigenen Sumpf,
und, statt zu leuchten, wird er krank und stumpf
... und dumpf!"(Fitz 1994, 80)
"Dieses Buch ist für
alle wichtig zu lesen, weil es provokativ ist. Es wirbelt Staub auf und bewegt
in den Köpfen festgefahrene Gedankenmuster. Es ist ein Lebens- und Gesellschaftsentwurf,
dem ich seit meinem 16. Lebensjahr nachhänge."
Lisa Fitz
"Dieses Buch ist so
wahr, dass ich nichts hinzufügen kann. Ich danke für soviel Mut
und wünsche, dass diese Gedanken zur sexuellen Befreiung verwirklicht
werden."
Prof. Ernest Borneman (Sexualwissenschaftler)
"Von all den Büchern
über Partnerschaft, die in den letzten Jahren so erfolgreich waren, geht
kein einziges den Fragen von Sexualität, Eros und Liebe so ehrlich und
gedankenvoll auf den Grund wie das neue Buch von Dieter Duhm. Mir hat schon
sein vor fast zwanzig Jahren erschienenes Werk über 'Die Angst im Kapitalismus'
die Augen geöffnet, nun habe ich abermals einen geistigen Anstoß
erhalten, der in mir, wie sicherlich auch in vielen anderen Lesern, weit über
den Tag hinaus weiterwirken wird."
Robert Jungk (Zukunftsforscher)
Christiane Weber-Herfart
z.B. kommt dagegen mit ihrer vernichtenden Kritik im Psychologie Heute Magazin
zu folgendem Schluß:
"Duhms patriarchale Geistesblitze erhellen einen (Geistigen-)Horizont,
der sich offenbar seit 68 in einer ständigen Entwicklung befindet - nach
hinten, nach rückwärts" (Psychologie Heute)
Im folgenden soll eine kurzkommentierte Auflistung aktueller Bücher zum Thema "freie Liebe" aufgestellt werden:
Harriet, Elisabeth-Joe:
Ich kann nur treu sein, wenn ich frei bin. München 1994
Die ehemalige Lehrerin und jetzige Schauspielerin, Sängerin, Kaberettistin
und Moderatorin (bei Vox), beschreibt aufgrund eigener Erfahrungen mit vielen
Beispielen aus dem Leben, was für sie eine neue Kultur der freien Liebe
ohne sexuelle Verdrängung bedeuten könnte. Dabei werden u.a. die Themen
Eifersucht, Ehe, sexuelle Treue, offene Zweierbeziehung und die Folgen für
die eigenen Kinder angegangen und sehr persönlich beleuchtet. Das Buch
von Dieter Duhm "Der unerlöste Eros" hat hier deutliche Spuren
hinterlaßen!
Heinzelmann, Regula:
Die neuen Paare - Anleitung zur Polygamie. München 1994
Die studierte Rechtswissenschaftlerin und jetzige freie Journalistin versucht
in ihrem Buch, den LeserInnen praktische Anregungen zu bieten, wie man/frau
mehrere Partnerschaften langfristig koordinieren kann. Ausgehend von der Kritik
der traditionellen "Monogamie-Ideologie" plädiert sie für
eine neue Partnerschaftethik, die in der Lebensform der "Polygamie"
ihren sachlichen Anhalt findet. Im weiteren versucht sie mittels einer Beziehungs-
und Lebensanalyse allgemein zu erklären, wie man/frau sich im Leben mit
mehreren PartnerInnen orientieren kann. Dabei diskutiert sie die Folgen für
das Alltagsleben und die Probleme, die sich hier ergeben können und auch
wie man/frau sie lösen kann.
Blau, Ros: Der geteilte
Mann. Erfahrungen in der Ehe zu Dritt. Reinbek bei Hamburg 1995
Die Autorin, konvertierte Muslima und studierte Psychologin und Germanistin,
lebt zusammen mit ihrem Mann, dem gemeinsamen Sohn sowie ihrer Mitfrau und deren
Töchtern in einer islamisch geführten Mehrehe. Ihre Erfahrungen damit
bringt sie in Verbindung mit den Leitbildern und Lebensformen der westlichen
Welt und sie diskutiert dabei auch grundsätzlich die Themen von Liebe,
Eifersucht, Treue...Eine sehr spannende Abhandlung!
Joachim, Frank: Die 8er
Ehe. Variationen über die Monogamie. 1993
Vor dem Hintergrund der hohen Scheidungszahlen und Ehezerüttung schlägt
Joachim die 8er-Ehe als Ausweg vor, die als eine paritätisch besetzte Gruppenehe
mit zeitlich limitierter Paar-Rotation verstanden wird. Nicht ohne Augenzwinkern!
Lichtenfels, Sabine:
Weiche Macht. Perspektiven eines neuen Frauenbewußtseins und einer neuen
Liebe zu den Männern. 1996
Zur Einführung berichtet Lichtenfels sehr persönlich über ihre
bisherigen Erfahrungen in der Liebe: "Meine Suche nach neuen Wegen in der
Liebe." Augrund dieser Einführung werden auch ihre nachfolgenden Gedanken
verständlich und nachvollziehbar. Konsequent und sehr zielsicher bringt
sie somit ihre umfassende Ansichten zur Freien Liebe auf den Punkt. Da heißt
es zum Beispiel: "Freie Liebe und Partnerschaft schließen sich nicht
aus, sie bedingen einander. Freie Liebe bedeutet ja nicht, dass man von
einem zum nächsten wechselt. Solange Liebe nicht den Weg zu wirklicher
Freundschaft findet, rennen die einzelnen bedürftig von einem zum nächsten.
Was du beim einen nicht kriegst, das suchst du beim anderen. Du wirst es aber
nie finden, wenn du immer an den gleichen Stellen abhaust. Und je mehr Menschen
du auf deinem Weg verläßt, desto mehr steigt die Angst, verlassen
zu werden. Die kritischen Stellen werden sich, egal mit wem, solange wiederholen,
bis du sie gelöst hast. Beziehungen klären und klar halten, ist eine
Grundvoraussetzung für die freie Liebe, denn sonst ist sie nur ein guter
Nährboden für Angst, Haß und Neid. Natürlich wünscht
man sich Intimität, Partnerschaft, Treue in der Liebe. "Bis an mein
Lebensende..." Dieser Satz soll ja endlich wahr werden können, und
zwar nicht durch Moral und strenge Gesetze, sondern weil es spannend bleibt
miteinander, sinnlich und geistig."
Onken, Julia: Die Kirschen
in Nachbars Garten. Von den Ursachen fürs Fremdgehen und den Bedingungen
fürs Daheimbleiben. 1999
Geschickt in eine Geschichte verpackt und garniert mit einer Fremdgeh-Umfrage
schildert Onken ihre Ansichten zu diesem Themenbereich. So bietet sie ohne moralischen
Zeigefinger sehr spannende Gedanken, die zum Teil sehr gescheit durchdacht sind.
Vor allem plädiert sie dafür, nach den wirklichen Ursachen des Fremdgehens
zu forschen und in der Krise die Chance zu erkennen, mehr über sich selbst
zu erfahren und das Verhältnis zum anderen von Grund auf zu klären.
Somit gelangt man zu einem realistischen Selbstbewußtsein und kann damit
mehr Freiheit in der Liebe wagen.
Moeller, Michael Lukas:
Worte der Liebe. Erotische Zwiegespräche. 1998 Und: Gelegenheit macht Liebe.
Glücksbedingungen in der Partnerschaft. 2000
Moeller entwickelt mit dem Konzept des "Zwiegesprächs" ein hervorragendes
"Werkzeug", um Gelegenheiten in der Liebe zu kultivieren und somit
die Freiheitsmöglichkeiten in der Liebe bewußter zu gestalten. Ich
habe mit den Büchern von Moeller intensiv gearbeitet und kann sie nur wärmstens
weiterempfehlen. Äußerst tiefgreifend befasst sich Moeller immer
wieder mit dem Thema "aushäusige Verliebtheit". Dabei entwickelt
er "seelische Instrumente für kritische Situationen", um konstruktiv
mit aushäusigen Verliebtheiten umgehen zu können: Die Hebung des Schatzes
der Eifersucht!
"Wer
das Schöne im Leben vergißt wird böse. Wer das Schlechte vergißt
wird dumm."
Erich Kästner
"Die gesamte Freiheitsbewegung
wird geschmäht und verdorben, weil so viele Anhänger der Freiheit
nicht auf dem Boden der Wirklichkeit stehen."
Alexander S. Neill
Eine entwertende Übertreibung
entsteht dann, wenn bestimmte Motive und Einsichten verabsolutiert werden und
dadurch in einer bestimmten Lebenslage nicht mehr stimmig sind. Im Fall der
Idee der "freien Liebe" liegen solche entwertenden Übertreibungen
immer dann vor, wenn ihre Grundaussagen, die Prozeß- und Situationscharakter
haben, verabsolutiert und zu Programmen verkürzt werden.
Die Geschichte der "freien Liebe" hat teilweise auf tragische Weise
gezeigt, was passiert, wenn man/frau sich zugunsten einer Ideologie der "freien
Liebe" aufopfert. So ist es halt: Wer mit Idealen allzu hoch greift, stürzt
allzu tief ab. Die Generation der "freien Liebe" vor uns neigte ständig
zu der Meinung: Wenn das eine richtig ist , muß das andere falsch sein.
Doch das Wahre wird nicht wahrer, wenn man/frau es verabsolutiert; es wird dann
meist falsch. Aus der Verabsolutierung der "freien Sexualität"
wird die Diktatur der "freien" Sexualität - eine zwanghafte Vergewohltätigung
im Namen der "freien Sexualität". Pfui Teufel! So wird das Gute
eben nicht besser, wenn man/frau es verabsolutiert; es erzeugt vielmehr das
Schlechte und Böse, das es zu seiner Profilierung benötigt. Die Macht
der freien Sexualität wird nie positiv sein können, wenn sie zu viel
Macht bekommt; denn Macht korumpiert und absolute Macht korumpiert absolut.
Die Verabsolutierung von Werten und jede Form von Extremismus sind grundsätzlich
falsch. Das Dilemma der revolutionären Bewegung im Namen der Befreiung
von Liebe und Sexualität, ist, dass sie die eigenen Werte im gewissen
Sinne verabsolutisieren mußten. Denn um etwas Neues und Grundsätzliches
deutlich zu machen, muß man/frau es bis zu einem gewissen Grade überzeichnen,
auf die Gefahr hin, dass es dann bereits wieder falsch ist.
Die Idee der "freien Liebe" wurde als ein "reines" Charisma
mit revolutionärer Kraft wahrgenommen. Die Freiheitsbewegung der "freien
Liebe" kann man/frau somit auch als eine ideencharismatische Bewegung sehen.
Das Charisma der Idee der "freien Liebe" ruht in seiner Macht auf
ein Offenbarungsglauben im Hinblick auf eine bessere, freiere und gewaltlosere
Welt. Das ist heroisch und edel, aber auch gefährlich. Das Charisma der
"freien Liebe" muß sich an der Wirklichkeit der Menschen relativieren,
um nicht zu entarten und Unheil zu bewirken. Die Geschichte zeigt: Die Idee
der "freien Liebe" kann also nicht verordnet, sondern nur im gemeinamen
und freiwilligen Dafürhalten der Beteiligten im gemäßigten Tempo
entwickelt werden. "Freie Sexualität" als Hau-Ruck-Ideologie
funktionalisiert menschliche Bedürfnisse und Gefühle losgelöst
vom authentischen Empfinden der Beteiligten. Damit ist man/frau auf dem absoluten
Holzweg! Hier macht Liebe blind! Was fehlt ist die Erkenntnis, um die Liebe
in Freiheit wieder sehend zu machen.
Im folgenden
soll die These vertreten werden, dass die inneren Bezugsgrößen
"freie Liebe" (Freiheit) und "Zweierliebe" (Bindung) auch
in einem inneren Spannungsverhältnis bestehen müssen. Zwischen diesen
positiven Werten besteht kein Außschließungsverhältnis, sondern
ein positives Spannungs- bzw. Ergänzungsverhältnis. Um dieses Werte-
und Spannungsverhältnis anschaulich plausibilisieren zu können, verwenden
wir ein Wertequadrat, das der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von
Thun in seinem Buch "Miteinander Reden II" (1989) in Anlehnung an
Helwig (1967) als gedankliches Werkzeug vorgestellt hat.
"Die Prämisse lautet: Um den dialektisch strukturierten Daseinsforderungen
zu entsprechen, kann jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal)
nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener
Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer 'Schwestertugend', befindet. Statt
von ausgehaltener Spannung läßt sich auch von Balance sprechen. Ohne
diese ausgehaltene Spannung (Balance) verkommt ein Wert zu seiner 'Entartungsform'
(Helwig) - oder sagen wir lieber: zu seiner entwertenden Übertreibung"
(Schulz von Thun 1989, 38).
Und hier das allgemeine Wertequadrat:
"1. Die
obere Linie zwischen den positiven Werten bezeichnet ein positives Spannugs-
bzw. Ergänzungsverhältnis, wir können auch von einem dialektischen
Gegensatz sprechen.
2. Die Diagonalen bezeichnen konträre Gegensätze zwischen einem Wert
und einem Unwert;
3. die senkrechten Linien bezeichnen die entwertende Übertreibung;
4. die untere Verbindung zwischen beiden Unwerten stellt gleichsam den Weg dar,
den wir beschreiten, wenn wir dem einen Unwert entfliehen wollen, aber nicht
die Kraft haben, uns in die geforderte Spannung der oberen Pluswerte hinaufzuarbeiten.
Also wenn wir aus einem Unwert in den entgegengesetzten anderen Unwert fliehen.
Die Verbindung zwischen den unteren Begriffen stellt also die Fehlleistung einer
'Überkompensation· des zu vermeidenden Unwertes durch den gegenteiligen
Unwert dar' (Helwig, 1967, S.66)" (Schulz von Thun 1989, 39f.).
Und hier das spezielle Wertequadrat, das als Orientierungsmodell für Liebesbeziehungen verstanden werden kann:
Bei dem positiven
Spannungsverhältnis "freie Liebe" und "Zweierliebe"
geht es nicht um eine ausgewogene Mittelmäßigkeit. Das angepeilte
Ziel ist keine statische, sondern eine dynamische Balance. Entscheidend ist,
dass als innere Möglichkeit je beide Haltungen zur Verfügung
stehen.
Dieses Wertequatrat als Denkwerkzeug verstanden, ist ein Orientierungsmodell
für die Liebe und Sexualität, das sich nicht nur auf eine Liebesbeziehung
beschränken läßt. Es enthält in sich eine Orientierungskraft
für alle Menschen, die man/frau wirklich liebt. Als Wertequadrat dient
es somit der sozialethisch begründeten Verhaltensorientierung. Darüber
hinaus kann es auch als Entwicklungsquadrat für unterentwickelte Verhaltenskompetenzen
gesehen werden. Entsprechend können die Entwicklungsrichtungen eines Menschen
bestimmt werden, die angezeigt sind, um den besonderen Herausforderungen der
Lebenswelt gerecht zu werden.
Im folgenden geht es nun darum, das Netz von Beziehungen zwischen den vier Polen
des Wertequadrats zu interpretieren und einige Aussagen darüber zu machen.
Es geht mir dabei nicht um Vollständigkeit. Ganz im Gegenteil: es soll
noch genügend Frei-Raum für weitere Interpretationen bleiben.
Einseitig gelebte "Zweierliebe" (Bindung) unter Ausblendung des positiven
Gegenwerts von "freier Liebe" (Freiheit) verkommt zur "Zwangs-Monogamie"
(Gebundensein): Diese Extremform ist meist das Leitbild in der Phase der Verliebtheit.
Man/frau möchte ein "Herz und eine Seele" sein, einander ganz
gehören, alles miteinander teilen und sich auf eine totale Harmonie einstimmen.
Hier sucht man/frau die erlösende Geborgenheit in der symbiotischen Verschmelzung.
Dies kann gerade in der Phase der Verliebtheit durchaus sinnvoll sein, um die
neu gefundene Beziehung nach außen zu schützen und im Inneren zu
festigen. Aber dann, wenn sie fest genug ist, muß die Abschottung beseitigt
werden. Sonst kommt es zur "Überintimität", die zur völligen
Selbstaufgabe führen kann, indem wichtige Bedürfnisse (Autonomie,
Sexualität...) unterdrückt werden. Längerfristig gesehen herrscht
in dieser Beziehung viel Tod. Anstatt Wachstum gibt es viel Wiederholungen und
Rollenspiele. Diese Klammerbeziehung gründet hauptsächlich auf Angst:
Verlustangst, Sexualangst, Angst vor Ablehnung, vor dem Alleinsein... Hier heißt
es dann: "Ich brauche dich, weil du die Angstbewältigung garantierst".
Diese Zwangsform einer Beziehung führt somit oft in "eine kleinkarierte
Idylle gegenseitiger Abhängigkeit und Selbstgenügsamkeit mit der Tendenz,
alles, was außerhalb der Dyade (Zweierbeziehung) passiert, ängstlich
zu beobachten, als feindlich oder bedrohlich abzuwehren und möglichst unberührt
daran vorbeizuleben. Diese Ideologie stellt sich bildhaft dar in der Konstruktion
des Idealheimes mit eigenem Gärtchen, das durch Mauern und dicke Laubhecken
vor jedem Einblick geschützt ist und einen durch zugezogene Vorhänge
und mit Gucklöchern versehene Haustüren vor bösen Blicken bewahrt"
(Willi 1990, 20). Die Entwicklungsrichtung im Wertequadrat macht deutlich, dass
sie nur von unten rechts ("Zwangs-Monogamie") nach oben links ("freie
Liebe") verlaufen kann.
Aber auch umgekehrt gilt: "Freie Liebe" (Freiheit) mißrät,
wenn sie nicht mit den Werten der "Zweierliebe" (Bindung) gepaart
ist, zur "narzistischen Beziehunglosigkeit": Hier wird ohne Rücksich
auf Verluste eine selbstsüchtige Egozentrik gehegt, die im Kontakt zu einer
anderen Person diese gar nicht wirklich trifft, sondern nur dazu benutzt wird,
um im Spiegel der eigenen Selbstgefälligkeit bewundert zu werden. Hier
werden die Gefühle eines anderen rücksichtslos ausgenutzt. Durch eine
solche Illusion der Freiheit verblendet, glaubt man/frau, zu sich selber zu
kommen, stattdessen ist man/frau auf der Flucht vor der Unfähigkeit zur
echten Kontaktaufnahme, zum authentischen SichEinbringen-Können. Diese
Ideologie der Freizügigkeit führt zur einer asozialen Selbstentfremdung.
In dieser großen Scheinfreiheit stirbt man/frau in der Kälte der
Isolation und Entfremdung. Anstatt Wachstum gibt es in dieser beziehungslosen
Beziehung viel Indifferenz und Unempfindlichkeit. Hier kann die Entwicklung
im Wertequatrat nur von unten links ("narzistische Beziehungslosigkeit")
nach oben rechts ("Zweierliebe") erfolgen.
Die Frage "wie" und "wieviel" die Werte "freie Liebe"
und "Zweierliebe" in einer Liebesbeziehung zur Geltung kommen können,
läßt sich natürlich nicht in allgemeiner Form darstellen. Es
läßt sich jedoch von den konkret Betroffenen in einer konktreten
Situation erspüren, wenn sie hellhörig dafür sind und sich in
ihrer Wahrnehmungsfähigkeit dahingehend ausbilden. Für mich gilt hier
die Frage: "Was ist die Wahrheit der Situation?", als wichtiger Maßstab.
Stimmigkeit hat Vorrang! Was ist stimmig und was ist unstimmig? Stimmigkeit
bezieht sich dabei auf mein inneres Zumutesein und auf das mittels Emphatie
wahrnehmbare Zumutesein meiner Partnerin bzw. meines Partners. Desweiteren bezieht
sich Stimmigkeit auf die Beziehung ("Was läuft bei uns ab?")
und die Anforderung der Lage (sozialer Kontext), sowie das Anliegen meiner Existenz.
Als kommunikatives Subjekt mache ich mich dahingehend möglichst transparent,
um somit aufrichtig und fair in Kontakt zu treten. Dies ist jedoch immer auch
ein Weg des Versuchs und Irrtums - ob es letztlich für alle Beteiligten
aufrichtig ist, was ich aufgrund meiner Werte, Fähigkeiten und Möglichkeiten
anstrebe, ergibt sich schließlich aus den Wirkungen, aus dem Zusammenspiel,
aus dem, was daraus entsteht: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!"
In unserem Kulturkreis sind vor allem die Werte "oben rechts", aber
auch teilweise noch die Unwerte "unten rechts" jeweils hoch im Kurs.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich und für die Humanisierung
des Menschen erstrebenswert, wenn die Entwicklungslinie von unten rechts ("Zwangs"-Monogamie)
nach oben links verläuft ("Freie Liebe") - auch um die Gefahr,
dass das Gegenpendel gelegentlich zu weit schlägt ("narzistische
Beziehunglosigkeit"). Deshalb ist darauf zu achten, dass die neuen
Werte bezüglich der Idee der "freien Liebe" nicht zu einer Art
Pflichtprogramm werden. Was als Prozeß der persönlichen Befreiung,
der inneren Emanzipation und als gesellschaftliche Befreiung gedacht ist, verkümmert
auf diese Weise zur neuen Anpassungsleistung. Die Ideenwerte der "freien
Liebe" sind auf dem Holzweg, wenn sie nicht zu einer inneren und äußeren
Emanzipation, sondern zu einer bloßen Uniformierung des Verhaltens führen.
Es geht hier um eine Erweiterung der persönlichen Substanz und nicht um
die Einübung eines Optimalverhaltens der "freien Liebe", das
ja meistens dazu dient, mehr aus sich zu machen, bevor man/frau wirklich "mehr"
geworden ist. So sollte auch das Lernziel: "Freie Liebe" nicht mit
großen Lettern auf der Flagge stehen. Die Leitwerte der "freien Liebe"
können nur langsam, nach dem individuellen Tempo und dem beziehungsimmanenten
Tempo entwickelt werden. "Freie Liebe" ist letztlich ein Spontan-Phänomen,
was ganz von selbst kommt, wenn das Arrangement dafür stimmig ist. "Freie
Liebe" kann somit nicht direkt und unmittelbar erzeugt werden.